Ausstellungsansicht, (In)Visible Differences, Einzelausstellung, Kunsthaus Viernheim, Viernheim, Deutschland, Ozeanus, 175 Ketten, 12 Module, Sound, Ozeangeruch, 3 m x 3 m, 2024, Foto: Alexander Kästel
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Mit allen Sinnen sehen – Semra Sevin: (In)visible Differences

Was wäre, wenn man Installationen nicht nur sehen, sondern gleichzeitig auch hören, fühlen und riechen könnte? Die aktuelle Ausstellungsreihe (In)visible Differences der in Berlin lebenden Künstlerin Semra Sevin macht aus den verschiedenen, aufwendig entwickelten, plastischen Ausstellungsteilen ein barrierearm begehbares Gesamtkunstwerk für alle Sinne.

Mit ihrer aktuellen internationalen Wanderausstellung öffnet Semra Sevin ihre Kunst nicht nur für blinde Menschen und Menschen mit Sehbehinderung, die die maßgebliche Zielgruppe sind, sondern macht auch für Menschen ohne Seheinschränkung auf vielfältige Weise erfahrbar, was unsere Sinne gemeinsam kreieren können bzw. was fehlt, wenn einer dieser Sinne ausgeblendet wird. Da es sich bei ihren Installationen um intuitive Stationen handelt, die durch das persönliche Ausprobieren und Austesten lebendig werden, kommt diese Expositionsreihe mit wenig beschreibenden und erklärenden Texttafeln aus. Dadurch wird eine universelle Verständlichkeit erreicht.

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Ausstellungsansicht, (In)Visible Differences, Einzelausstellung, Zagreus Galerie, Berlin, Deutschland, 2022, Foto: Semra Sevin, all rights reserved

Wie? Wann? Wo?

Sevins aktuelle inklusive und multimediale Ausstellung hat den Titel (In)visible Differences (in Honduras: Differencias (In)visibles). Das erste Mal wurde sie Mitte 2022 bis Anfang 2023 in der Zagreus Project Galerie in Berlin, dann im Frühjahr 2024 im Kunstverein Viernheim gezeigt. Seit dem 15. November 2024 ist sie im Centro de Arte y Cultura Universidad Nacional Autónoma de Honduras in Tegucigalpa, der Hauptstadt von Honduras, zu sehen. Das Centro de Arte y Cultura ist in einem wirtschaftlich eher schwächeren Stadtviertel angesiedelt und bezieht deshalb noch engagierter als andere Institutionen die dort lebenden Menschen mit ein. Und auch danach ist noch kein Ende in Sicht. Weitere Stationen werden aktuell in verschiedenen Ländern verhandelt. Von Station zu Station entwickeln sich die Ausstellungsbereiche weiter, die Technik ist in Honduras ausgereifter, die Sensibilität der interaktiven Stationen höher – eben anders – als noch 2022 in Berlin. Auch deshalb wünscht sich die Künstlerin einen weiteren Ausstellungstermin in der Stadt, die aktuell ihre Wahlheimat ist und in der für (In)visible Differences alles seinen Anfang nahm.

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Ausstellungsansicht, (In)Visible Differences, Einzelausstellung, Centre for Art and Culture - CAC UNAH, Tegucigalpa, Honduras, 2024, Foto: Semra Sevin

Wie alles begann

Doch gehen wir noch einmal einen Schritt zurück: Wie entstand diese Ausstellung eigentlich? Sevins Herangehensweise ist partizipativ. Ihre Werke beginnen immer in der intensiven, feinfühligen und doch schonungslos ehrlichen Begegnung mit Menschen marginalisierter Gruppen. Als Tochter türkischer Eltern, die immer einen offenen, humanistischen Ton zu Hause pflegten, interessieren Sevin schon von jeher Themen wie Identität und die Vielfältigkeit der Menschen in unserer Gesellschaft. In diesem Fall führte sie als Grundlage für die Stationen der Wanderausstellung im Vorfeld zahlreiche Online-Interviews mit blinden Menschen und Menschen mit Sehbehinderung von vier verschiedenen Kontinenten. Gefördert wurden diese Recherchen durch den BBK Berlin, Neustart Kultur und die Bundesregierung für Kultur und Medien. In dieser Phase entstand als erstes öffentliches Projekt von Sevin für blinde Menschen und Menschen mit Sehbehinderung eine inklusive Skulptur auf dem Betty Hirsch Platz in Berlin, benannt nach der gleichnamigen blinden Pionierin. Die Antworten ihrer Gesprächspartner:innen offenbarten Sevin deren Wünsche und Bedürfnisse zu Kunst und Kultur, aber auch zur Kommunikation mit Menschen mit anderen Voraussetzungen. Hauptzielgruppe waren anfangs blinde Menschen und Menschen mit Sehbehinderung. (In)visible Differences wurde von Sevin mit viel Empathie für die Kunstwahrnehmung dieser Menschen entwickelt und bildet so eine Brücke zwischen den verschiedenen Erfahrungswelten. Doch auch dieser Fokus hat sich verändert, als klar wurde, dass das Erfahren von Kunst – vor allem plastischer Kunst – mit mehreren Sinnen für verschiedene Menschen mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen einen Mehrwert bieten kann.

Einmal durch die Ausstellung

Die Gestaltung von (In)visible Differences ändert sich je nach Präsentationsort, denn sie passt sich an die lokalen Gegebenheiten an. Es ist immer relativ dunkel in den Räumen, mit Spots auf den Hauptinstallationen, um die visuellen Reize nicht zu sehr in den Vordergrund zu stellen. Die anderen Sinne sollen mindestens gleichberechtigt danebenstehen. Um das Erlebnis ihrer Ausstellungen für blinde Menschen und Menschen mit Sehbehinderung so barrierearm wie möglich zu gestalten, gibt es seit Honduras auch ein Blindenleitsystem, das die einzelnen Stationen sinnvoll verbindet.

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Ausstellungsansicht, (In)Visible Differences, Einzelausstellung, Kunsthaus Viernheim, Viernheim, Deutschland, Ozeanus, 175 Ketten, 12 Module, Sound, Ozeangeruch, 3 m x 3 m, 2024, Foto: Semra Sevin

Elemente, die Sevin aber besonders wichtig sind und die sie deshalb auch bei jeder Station der Wanderausstellung beizubehalten versucht, sind etwa die von der Decke herabhängenden Ketten, die bei Berührung verschiedene Klänge erzeugen. Man bewegt sich auf sie zu, durch sie hindurch, erspürt die Ketten mit den Händen, mit dem Gesicht und mit dem ganzen Körper. Zusätzlich versetzen die akustischen Reize die Besuchenden in eine für verschiedene Sinneswahrnehmungen offene Stimmung. Diese Installation kann gänzlich sinnlich und intuitiv erfahren werden. In ähnlich immersiver Weise wirkt die interaktive Installation von kleinen Wasserbassins, die bei Berührung der Wasseroberfläche ebenfalls Klänge erzeugen. Diese Station kann gleichzeitig von mehreren Besuchenden genutzt werden –auch von völlig fremden Menschen gemeinsam – was sie zusammenführt und durch das zeitgleiche Erzeugen von Klängen ein gewisses Gemeinschaftsgefühl hervorrufen kann. Zusammen mit der Treppe, die bei jedem Schritt Töne erzeugt, sind diese Installationen wesentlich für das Gesamterlebnis von (In)visible Differences.

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Ausstellungsansicht, (In)Visible Differences, Einzelausstellung, Centre for Art and Culture - CAC UNAH, Tegucigalpa, Honduras, Umschlungene Debbie, 30 x 30 x 23 cm, 3D-Modell, 3D-Print, Sandelholzduft, 2022, Foto: Semra Sevin

Stärker intellektuell aufgeladen sind dagegen Sevins abstrakte, mit dem 3D-Drucker erschaffene Porträts, die die Künstlerin durch die Umkodierung von fotografischen Selbstporträts der im Vorfeld interviewten Menschen erhielt. Die aufgezeichneten Gespräche selbst erklingen während der Betrachtung der Plastiken und regen die Vorstellungskraft der Besuchenden an. Zudem kombiniert die Künstlerin diese abstrakten Porträts mit den Lieblingsdüften der repräsentierten Personen. Die Abstraktion relativiert sich dadurch und es entsteht der Eindruck, man würde diese Personen über Stellvertreter kennenlernen.

In einer Abwandlung dieser Idee installiert Sevin Perücken an Smartphones und lässt eine KI (aktuell ChatGPT) so mit den Besuchenden sprechen, als würden sie mit berühmten blinden Menschen und Menschen mit Sehbehinderung, z. B. Betty Hirsch und Helen Keller, plaudern. Hier darf und soll selbstverständlich auch berührt, gehört und an den Perücken gerochen werden, bis sich in der eigenen Fantasie ein konkretes Bild der porträtierten Personen ergibt. Sevin spricht also nicht nur sämtliche Sinne an, sondern spielt mit den Emotionen, die sie erzeugen, und bringt die Besuchenden dazu, visuelle Lücken mithilfe der eigenen, von außen angeregten Vorstellungskraft zu füllen. Aus den abstrakten Porträts werden durch die Kombination verschiedener sinnlicher Eindrücke die realen Personen erfahrbar.

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Ausstellungsansicht, (In)Visible Differences, Einzelausstellung, Centre for Art and Culture - CAC UNAH, Tegucigalpa, Honduras, PerĂĽcke mit Smartphone und ChatGPT / Helen Keller, 2024, Foto: Semra Sevin

Je nach den räumlichen Bedingungen des Ausstellungsorts kommen weitere Installationen und bei genügend Platz ganze Environments hinzu. In Viernheim gab es zum Beispiel zusätzlich einen Raum, in welchem durch die bloße Bewegung Duft, Geräusche, Hitze oder Vibration über einen speziellen Bodenbelag ausgelöst wurden. Hier wurden die Besuchenden, anders als bei den zuvor beschriebenen Stationen, mit eher unangenehmen sinnlichen Empfindungen konfrontiert. In diesem Fall war der Raum das Exponat, das, wie die meisten von Sevins Werken, nicht ohne die teilnehmenden Menschen funktioniert – ja, man kann fast schon sagen, dass es ohne die Besuchenden nicht existiert.

Ebenfalls in Viernheim gab es einen Raum, der mit der künstlerischen Andeutung von Stoffen auf Wäscheleinen in einen gefühlten Außenraum mit frisch gewaschener Wäsche beim Trocknen verwandelt wurde – inklusive des Geruchs von duftendem Waschmittel, der durch einen Diffusor im Raum verteilt wurde. Um diese Installation bestmöglich sinnlich erleben zu können, musste man sich aktiv durch den Raum und durch die „Wäsche“ hindurchbewegen, wodurch erneut auch der Tastsinn mit einbezogen wurde.

 

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Ausstellungsansicht, (In)Visible Differences, Einzelausstellung, Kunsthaus Viernheim, Viernheim, Deutschland, Ozeanus, schwarze Stoffe auf Wäscheleine, Sound, frischer Leinengeruch, Sound, 2024, Foto: Alexander Kästel

Der Sinn, der innerhalb einer Kunstausstellung am schwersten miteinzubeziehen ist, der Geschmacksinn, entsteht in Sevins Ausstellungen oft durch Assoziationen der Austellungsbesucher:innen. So kann, je nach individuellem Empfinden, beim Durchschreiten der Kettenvorhänge etwa ein metallischer Geschmack beim Berühren der Wasseroberfläche der Wasser-Klang-Bassins, ein Geschmack von Mineralwasser, heraufbeschworen werden. Die erste Station der Ausstellung in Berlin konnte jedoch auch mit einem ganz realen Geschmackerlebnis aufwarten: Der Galeriebetreiber, Kurator und Koch Ulrich Krauss organisierte innerhalb der Ausstellung Vier-Gänge-Menüs, die das sinnliche Kunsterlebnis auch in dieser Hinsicht ergänzten.

Ein Mehrwert fĂĽr alle, die sich darauf einlassen

Was einmal als partizipative Ausstellung mit verschiedenen sinnlich erfahrbaren Stationen und Objekten für blinde Menschen und Menschen mit Sehbehinderung ins Leben gerufen wurde, hat sich zu einem Gesamtkunstwerk entwickelt. Lässt man sich ganz und gar darauf ein, stellt ein Besuch für alle einen Mehrwert dar. Die Stationen hängen innerlich zusammen und können einzeln nicht in vollem Umfang erlebt werden. Gemeinsam mit den anderen Ausstellungsbesucher:innen und nicht zuletzt aus der eigenen Imagination entsteht so ein zusammenhängendes Erlebnis aus Optik, Bewegung, Geruch, Geräusch und Gefühl.

Diesen Text verfasste Iris Haist auf Deutsch.

Ăśber den Autor/ die Autorin

Dr. Iris Haist

Iris Haist ist promovierte Kunsthistorikerin und Autorin. Ihre Leidenschaft fĂĽr Stein als Werkstoff kommt von ihrem GroĂźvater, der Steinmetz war und der seine Werkstatt im Hof ihres gemeinsamen Wohnhauses hatte.

Ăśbersetzung

Sybille Hayek

Sybille Hayek ist Lektorin und Ăśbersetzerin. Seit 2022 unterstĂĽtzt sie unser Team ehrenamtlich mit ihrem geschulten Blick fĂĽrs Detail und einer groĂźen Liebe zur Sprache.

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