Magazin

Brauchen wir Museen für Künstlerinnen?

Am 26. Mai 2025 versammelten sich online etwa 45 Kurator:innen, Künstler:innen und Kunstfachleute, um einer kritischen Frage nachzugehen: Brauchen wir heute noch separate Museen für Künstlerinnen? Eine aktuelle Diskussion über Zahlen, Räume, Kunst und was sich noch ändern muss

Die von Natasha Bergmann, Kunstberaterin und Mitglied des Kuratoriums von Sculpture Network, kuratierte und moderierte Diskussion lieferte aussagekräftige Statistiken und visionäre Ideen. Bergmann zeigte zu Beginn das berühmte Plakat der Guerrilla Girls – einer feministischen Künstlergruppe, die bereits seit den 1980er Jahren gängige Geschlechterklischees hinterfragt. Ihre denkwürdige Frage: „Müssen Frauen nackt sein, um ins Met Museum zu kommen?“, gepaart mit brutalen Fakten, ist auch heute noch aktuell: Weniger als 5 % der Künstler:innen in den Abteilungen für moderne Kunst des Met sind Frauen, aber 85 % der Aktdarstellungen zeigen Frauen.

Guerrilla Girls 1989
Guerrilla Girls, Do women have to be naked to get into the Met. Museum?, 1989

Und das Missverhältnis besteht weltweit: Nur 12,6 % der Werke in 18 führenden US-Museen stammen von Frauen; in der National Gallery in London sind es 1,2 % und im Museo del Prado in Madrid sogar nur 0,8 %.

Vor diesem Hintergrund bot das Gespräch zwischen der in Berlin lebenden Bildhauerin und Aktivistin Rachel Kohn und der polnischen Kuratorin Dr. Agnieszka Sosnowska vom Schweizer Muzeum Susch zwei sehr unterschiedliche, aber dennoch miteinander verbundene Strategien für Veränderung: den institutionellen Wandel und den aktiven Widerstand.

Muzeum Susch: Ein Ort für aufmerksames Betrachten

Das Muzeum Susch ist eine bemerkenswerte, noch sehr junge Kunstinstitution in den Schweizer Alpen, die 2019 von der polnischen Geschäftsfrau und Sammlerin Grażyna Kulczyk gegründet wurde. Sosnowska, die die Diskussionsplattform DISPUTAZIUNS des Museums leitet, unterstrich die Mission des Museums, unbeachtete Künstlerinnen zu würdigen – vor allem diejenigen aus den Jahren 1960 bis 1980, die bisher von den etablierten Institutionen ignoriert wurden.

© Muzeum Susch. Photo Conradin Frei
Muzeum Susch, 2019. Photo Conradin
Anstatt ein pompöses neues Gebäude zu errichten, entschied sich die Gründerin Grażyna Kulczyk für eine Philosophie der „unsichtbaren Architektur“ und integrierte moderne Ausstellungsräume in ein bestehendes Gebäude – ein ehemaliges Kloster aus dem 12. Jahrhundert – indem sie mehrere neue Grotten in den Fels meißeln ließ. Das Resultat ist eine kontemplative, an den Ort angepasste Umgebung, in der Natur und Kunst nebeneinander existieren. Das Muzeum Susch zeigt nicht etwa Kulczyks Sammlung, sondern zwei große Ausstellungen pro Jahr, meist Einzelausstellungen, mit dem Augenmerk auf wenig beachtete Künstlerinnen. Das Museum setzt hier auf eine tiefergehende, retrospektive Auseinandersetzung anstelle von kurzlebigen Wechselausstellungen. Diese Kunstausstellungen werden von einer Reihe von Monographien führender Theoretiker:innen wie Amelia Jones und kuratierten Symposien begleitet, die sich mit Themen wie den Grenzen der Bildhauerei oder der feministischen Kunstgeschichte auseinandersetzen.
Tapta © Muzeum Susch / Art Stations Foundation; Photo: Federico Sette.
Tapta Flexible Forms exhibition view (with two Cocoons)​ Muzeum Susch​. Photo Federico Sette

Selbst von seinem abgelegenen Standort aus erreicht das Museum ein internationales Publikum. Durch seine digitalen Programme und seine Online-Bibliothek mit Vorträgen und Symposien sorgt das Muzeum Susch dafür, dass diese bisher unterrepräsentierten Stimmen nun weltweit gehört werden. Es ist ein dezentraler, forschungsorientierter Ansatz zum Umbau des Kanons – behutsam, Stein um Stein.

Rachel Kohn: Ton, Erinnerung und Aktivismus

Rachel Kohns Vortrag verlagerte die Diskussion auf die Ebene des persönlich Erlebten. Die in Berlin lebende Bildhauerin arbeitet mit Ton und schafft archetypische Formen – Stühle, Häuser, Wolken – die Themen wie Erinnerung, Entwurzelung und Alltag aufgreifen. Sie beschreibt ihre Arbeit als tief mit ihrer eigenen Wahrheit verbunden, in der sie sich mit Mutterschaft, Heimat und einem sich wandelnden Gefühl der Zugehörigkeit auseinandersetzt.

Rachel Kohn, Me, You, Us
Rachel Kohn, Me, You, Us
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel, von dem sie sprach, war Me, You, Us, eine Skulptur aus 100 kleinen Stühlen für eine Berliner Kindertagesstätte – ein Werk, das von der kollektiven Erfahrung von Zusammenhalt, Fragilität und Fürsorge erzählt. Für Kohn geht es in ihrer Kunst nicht nur um die Form, sondern auch darum, die spannungsreichen Beziehungen zwischen dem Persönlichen und dem Gesellschaftlichen, dem Intimen und dem Politischen zum Ausdruck zu bringen.

Neben ihrer Arbeit im Atelier setzt sich Kohn aktiv für die Gleichstellung der Geschlechter in der Kunst ein. Sie ist Mitbegründerin von Fair Share! Sichtbarkeit für Künstlerinnen, einer gemeinnützigen Organisation, die 2020 als Basisbewegung ins Leben gerufen wurde. Zu ihren Projekten zählen datengestützte Interventionen zum Internationalen Frauentag, eine Augmented-Reality-Ausstellung von 100 Künstlerinnen vor dem neuen Museumsgebäude in Berlin und detaillierte Untersuchungen zu geschlechtsspezifischen Ungleichheiten in Museumssammlungen (so stammen beispielsweise nur 9 % der Werke in den Archiven der Neuen Nationalgalerie in Berlin von Frauen). Fair Share! will nicht nur auf ein Problem aufmerksam machen, sondern schlägt auch konkrete Maßnahmen vor. Unter anderem setzt sich die Organisation für ein Zertifikat für Geschlechterparität in Museen ein, auf der Basis von aktuellen Forschungsergebnissen und einer Reihe von umsetzbaren Kriterien.

fair share!

Kohn ist außerdem Vorstandsmitglied des Netzwerks Frauenmuseum Berlin und Mitglied des Vereins der Berliner Künstlerinnen, einer 1867 gegründeten Vereinigung zur Förderung von Künstlerinnen. In ihrem Aktivismus geht es ihr nicht nur um Sichtbarkeit, sie stellt auch unbequeme strukturelle Fragen: Wie viel institutionelle Mittel werden für den Erwerb von Werken von Künstlerinnen bereitgestellt? Wer kuratiert große Ausstellungen – und wie viele Frauen sind darunter? Was ist der tatsächliche Preis, der für eine Mutterschaft in einer Kunstkarriere zu zahlen ist, und warum sind männliche Künstler mit Kindern erfolgreich, während ihre weiblichen Kolleginnen oft verschwinden? Auch in den höchsten Ebenen der Kunstwelt besteht nach wie vor eine tief verwurzelte Ungleichheit – von der Diskrepanz zwischen den Geschlechtern bei großen internationalen Ausstellungen wie der Biennale in Venedig und der Documenta bis hin zu den nach wie vor bestehenden Gehaltsunterschieden zwischen männlichen und weiblichen Kunstprofessoren. Diese Ungleichheiten finden sich überall, und sie sichtbar zu machen, ist nur ein erster Schritt.

fair share

Getrennte Räume oder strukturelle Reformen?

Die zentrale Debatte der Diskussionsrunde drehte sich um die Frage, ob eigens für Künstlerinnen geschaffene Räume zu einer Lösung des Problems führen oder es vielmehr verdrängen würden. Sosnowska plädierte für die Schaffung von Schutzräumen wie dem Muzeum Susch, wo die Werke von Frauen gebührend gewürdigt und in den Mittelpunkt gestellt werden. Kohn betonte die Notwendigkeit einer Systemreform, um sicherzustellen, dass Künstlerinnen umfassend in bestehende große Institutionen, nationale Sammlungen und globale kunstrelevante Veranstaltungen eingebunden werden. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache, und die Zahlen sind vernichtend.

Teilnehmer:innen aus Großbritannien, Spanien, Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und der Schweiz beteiligten sich lebhaft an der offenen Diskussion und tauschten historische Bezüge, praktische Bedenken und Vorschläge für das weitere Vorgehen aus. Eine Kuratorin wies darauf hin, wie viele Künstlerinnen zwar zu ihrer Zeit Anerkennung fanden, später jedoch aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwanden. „Sie wurden einfach fallen gelassen“, sagte Kohn, „und jetzt müssen wir sie zurückholen.“

Und wie geht es weiter?

Die Diskussionsrunde hat offensichtlich gemacht: Die Zahlen erzählen eine deutliche Geschichte, die eigentliche Herausforderung besteht jedoch darin, die grundlegenden Strukturen der Kunstwelt – ihre Sammlungen, ihren historischen Hintergrund und ihre Schwerpunkte – neu zu definieren. Ob durch renommierte wissenschaftliche Institutionen wie das Muzeum Susch oder durch öffentlichkeitswirksame Aktivistengruppen wie Fair Share! – die Bemühungen um eine Neugewichtung des Kanons gewinnen an Dynamik.

Brauchen wir also Museen für Künstlerinnen?

Die Antwort scheint ja zu sein – aber idealerweise brauchen wir mehr als das. Wir müssen die Denkweise überwinden, die ihre Existenz überhaupt erst notwendig gemacht hat. Wir brauchen eine Kunstwelt, in der diese getrennten Räume nicht mehr notwendig sind, weil Gleichberechtigung in ihrem Kern verankert ist. Bis dahin geht die Arbeit weiter.

 

Der Bericht über die Veranstaltung wurde mit Hilfe von ChatGPT in englischer Sprache verfasst und von unserem Redaktionsteam redigiert.

Übersetzung

Sybille Hayek

Sybille Hayek ist Lektorin und Übersetzerin. Seit 2022 unterstützt sie unser Team ehrenamtlich mit ihrem geschulten Blick fürs Detail und einer großen Liebe zur Sprache.

Galerie

© Muzeum Susch, Photo: Andrea Badrutt, Chur
© Muzeum Susch, Photo: Andrea Badrutt, Chur
Anu Põder, exhibition Space for My Body, 2024 © Muzeum Susch / Art Stations Foundation; photograph: Federico Sette.
Anu Põder, exhibition Space for My Body, 2024 © Muzeum Susch / Art Stations Foundation; photograph: Federico Sette.
Rachel Kohn, Gemeinschaft, 2017, Steinzeug, Glasur, 50x25x25cm
Rachel Kohn, Gemeinschaft, 2017, Steinzeug, Glasur, 50x25x25cm
Rachel Kohn, Aus dem Zyklus Familie Himmelsangst, 2006
Rachel Kohn, Aus dem Zyklus Familie Himmelsangst, 2006
Rachel Kohn, Me, You, Us
Rachel Kohn, Me, You, Us
fair share! WOMEN ART OPEN 2025. Photo: lena Guiment
fair share! WOMEN ART OPEN 2025. Photo: lena Guiment

Mehr lesen

Sietske Roorda

Sculpting Emotions

Willy Hafner

Gefühle – welche Gefühle?

Zum Anfang der Seite scrollen