Radiations by Augustina Woodgate, photography Studio Uittenbogaart, courtesy Stroom Den Haag
Magazin

Mehr Wärme als Licht

Die Ausstellung „More Heat than Light“ ist sehr viel tiefgründiger, als man auf den ersten Blick erkennen mag. Die Werke der argentinischen Künstlerin Agustina Woodgate, die in den Niederlanden lebt, wirken einfach, sind aber oft komplexe Experimente, die die Quantenkommunikation, das Internet, Zeit, Temperatur und Energie zueinander in Verbindung setzen.

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Powerline by Agustina Woodgate, photography Studio Uittenbogaart, courtesy Stroom Den Haag

Ein Beispiel hierfür sind die acht analogen Uhren an der Wand des Kunstraums Stroom in Den Haag, die Signale von einer zentralen digitalen Uhr empfangen, die an die Energieversorgung der Stadt angeschlossen ist. Die analogen Uhren in der Arbeit Powerline laufen fast synchron. Die eine hinkt nur um Sekunden der anderen hinterher. Auf den Zeigern der Uhr befindet sich Sandpapier, und während die Zeit vergeht, werden die Ziffern der Uhr langsam ausgelöscht, so als würde die Zeit metaphorisch in kleine Stücke zerrieben.

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Radiations by Agustina Woodgate, photography Studio Uittenbogaart, courtesy Stroom Den Haag

In einem anderen Raum sind sechs Infrarotstrahler mit Sensoren verbunden, die jedes Mal aufleuchten, wenn sich etwas im Raum bewegt. Die Arbeit Radiations (Strahlung) enthüllt kurze poetische Satzfragmente, die mit der Quantenkommunikation und dem Internet in Verbindung stehen, wie zum Beispiel „Uncertain Fidelity“ (Unstete Treue) oder „Decoherent Supremacy“ (Inkohärente Vorherrschaft). Diese Aussagen scheinen widersprüchlich, ergeben aber immer mehr Sinn, je mehr man über Quantenkommunikation liest. Während man die Texte liest, steigt die Temperatur im Kunstraum langsam an, da die Temperatur im Raum durch die Anzahl der Personen und deren Bewegungen bestimmt wird.

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Future Star by Francesca Woodgate, photography Studio Uittenbogaart, courtesy Stroom Den Haag

Gleich um die Ecke zeichnet ein Thermodrucker das Ergebnis der Temperaturmessungen von zwei Thermometern im Außen- und Innenbereich auf. Das Geräusch des Bildpunkts, der alle drei Sekunden gedruckt wird, wird verstärkt und erzeugt einen lauten Knall, der im gesamten Kunstraum widerhallt. Die Arbeit Future Star (Zukunftsstern) fühlt sich an wie der Herzschlag des Raumes und ruft ein beunruhigendes Gefühl hervor, als könnte jeden Moment etwas zerfallen. Und das stimmt in gewisser Weise, denn unter dem Drucker befindet sich ein weiterer Heizkörper, der ebenfalls aufleuchtet, wenn man daran vorbeigeht. Er erwärmt das bedruckte Papier und lässt es dunkel werden, wodurch die Aufzeichnungen der beiden Thermometer zerstört werden.

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Alice & Bob by Francesca Woodgate, photography Studio Uittenbogaart, courtesy Stroom Den Haag

Im Erdgeschoss befindet sich ein Werk, bei dem es um den Kern der Quantenkommunikation geht: unvollkommene synthetische Diamanten, die so klein sind, dass sie mit bloßem Auge fast nicht zu erkennen sind. Die Videoinstallation Alice & Bob ist nach zwei dieser Diamanten benannt: einer davon befindet sich im QuTech-Labor in Delft und der andere im KPN-Turm in Den Haag. Die in der Installation gezeigten Bilder sind Ausschnitte aus dem Labor, die in Echtzeit von einem Computer bearbeitet werden und mit den Temperaturen, die von den beiden zuvor erwähnten Thermometern gemessen werden, korrespondieren. Wenn die Temperatur unter 10° Celsius fällt, gleichen sich die Bilder an und versuchen so, die Kopplung zwischen den beiden Diamanten sichtbar zu machen.

Schließlich gibt es eine Werkreihe aus mundgeblasenem Glas, das an Stahlrahmen aufgehängt ist. In den Glaskörpern befinden sich kleine diamantähnliche Steine, die die Kosten für die Kultivierung unvollkommener synthetischer Diamanten, die für die Quantenkommunikation und das Internet verwendet werden, verkörpern. Was die Arbeit direkt sichtbar macht, ist der erstaunliche Unterschied zwischen den notwendigen Materialien und den Rahmenbedingungen, unter denen die Diamanten hergestellt und verwahrt werden, und der Arbeitsleistung, die mit einem viel geringeren Kostenaufwand bewertet wird.

Um ehrlich zu sein, ist die Beziehung zwischen den verschiedenen Kunstwerken nicht leicht zu verstehen. Jedes Mal, wenn man glaubt, ein Werk vollständig verstanden zu haben, entzieht es sich einem scheinbar wieder. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass es sich hierbei keinesfalls um eine Ausstellung handelt, die versucht, die Quantenkommunikation und das Internet zu erklären, auch wenn es einen Begleitraum mit vielen Büchern und sogar einem dieser winzigen Diamanten gibt, den man unter einer Lupe betrachten kann. Stattdessen zeigt sie die Komplexität der Zusammenhänge, die bei der Quantenkommunikation zu Tage treten.

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The Circuit (detail) by Francesca Woodgate, photography Studio Uittenbogaart, courtesy Stroom Den Haag

Wenn man den Ausstellungsraum betritt, fällt dem aufmerksam Betrachtenden vielleicht auf, dass alle Verkabelungen an der Wand nicht kaschiert wurden, sondern sichtbar von den Wänden zur Decke aus dem Ausstellungsraum hinaus direkt in die Bibliothek von Stroom verlaufen, wo sich der Zählerschrank befindet. Dies ist auch das erste Werk, das im Begleitheft zur Ausstellung beschrieben wird. Nicht nur erhält das Kunstwerk so seine Funktionsfähigkeit, sondern es verbindet die unterschiedlichen Aspekte, die angesprochen werden, wie die Quantenkommunikation, steigende Temperaturen und die Zeit, die verrinnt.

Woodgate verknüpft ihr Kunstwerk so eng mit der realen Welt, dass es einfach wird zu erkennen, wie eine kleine Veränderung an einer Stelle unerwartete Auswirkungen an einer anderen Stelle haben kann. In diesem Sinne ist ihre Ausstellung ein großes Experiment, bei dem nicht ganz klar ist, wie die Ergebnisse aussehen werden oder welche Erkenntnisse einige der Kunstwerke ans Tageslicht bringen werden. Was offenbar wird, ist ein sehr fragiles System. Das erinnert uns ein wenig an Klimaforscher*innen, die nicht vorhersagen können, welche Auswirkungen steigende Temperaturen und der Anstieg des Meeresspiegels auf das Wetter, das Klima, den Planeten oder seine Bewohner*innen haben werden. Sie haben wohl eine Ahnung davon, dass die Folgen verheerend sein könnten.

Der Titel der Ausstellung „More Heat Than Light“ (Mehr Wärme als Licht), der auch einer der Sätze ist, die in der Arbeit Radiations rot leuchten, bezieht sich nicht nur auf die Quantenkommunikation, bei der die unvollkommenen Diamanten auf einer präzisen Temperatur gehalten werden müssen, sondern auch auf das englische Sprichwort, das besagt, dass eine Diskussion zu mehr Streit als zu tieferem Verständnis führt. Die Ausstellung wird dieser Aussage nicht gerecht. Man braucht nicht immer umfassendes Wissen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie eng einige große abstrakte, unsichtbare und nicht greifbare Einheiten miteinander verwoben sind.

Diesen Artikel verfasste Sietske Roorda auf Englisch.

Über den Autor/ die Autorin

Sietske Roorda

Sietske Roorda (Amsterdam, NL) ist eine niederländische Kunstkritikerin, Autorin und Podcasterin, die sich auf zeitgenössische Kunst spezialisiert hat und ein besonderes Interesse an politisch engagierter und feministischer Kunst hat.

Übersetzung

Sybille Hayek

Sybille Hayek ist Lektorin und Übersetzerin. Seit 2022 unterstützt sie unser Team ehrenamtlich mit ihrem geschulten Blick fürs Detail und einer großen Liebe zur Sprache.

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