SĂ©verin Guelpa, Aletgletscher, 2023. Photo: Willy Hafner
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Ich sehe was, was Du nicht siehst

Kunst ist. Sie zu sehen! Es braucht nicht immer einen White Cube, ein Museum, eine Kunsthalle, eine Galerie oder einen Skulpturengarten. Wer Kunst sehen will, braucht einen Plan, muss genau hinsehen, sich auf den Weg machen.

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Im Sommer 2024 führte ein Weg nach Engelberg in der Zentralschweiz. Backstage hieß dort eine Ausstellung, die zeitgenössische Kunst vorstellte; gratis und an Orten, wo man sie nicht erwartet – in der Lobby eines Luxushotels, in einer aufgelassenen Werkstatt, in einem ehemaligen Eiskeller, auf dem Dachboden, vor einer alten Scheune, in einem seit Jahrzehnten leerstehenden Backhaus, einem Fonduestübchen mit Holzofen und (klein) karierten Vorhängen oder anderen „Lost Places“.
„Eine Liebeserklärung an die Gemeinde” nannten die Initiator*innen ihre Ausstellung. Der Züricher Galerist Peter Kilchmann und die freie Ausstellungsmacherin Dorothea Strauss hatten sie kuratiert. 53 Künstler*innen aus 18 Nationen waren an sonst oft unzugänglichen Orten vertreten; 39 aus dem Netzwerk von Dorothea Strauss, 14 Stammkünstler*innen der Galerie Kilchmann aus Zürich und Paris.
Die Arbeiten – Gemälde, Fotografien, Objekte, Skulpturen, Zeichnungen, Installationen, Soundstücke und Videoarbeiten – befassten sich mit den Themen der Zeit: Klimawandel, Nachhaltigkeit, soziopolitische Entwicklungen. Sie berührten Fragestellungen, die jede und jeden betreffen: Identität, Balance, Vergangenheit und Zukunft. In Zeiten gesamtgesellschaftlicher Unsicherheit ging es um Freiräume für Neugier, Entdeckergeist oder die Lust auf Veränderungen. Die eigene Blickrichtung zu ändern, kann nie schaden, das tut gut und bereichert das Denken; das eigene und das der anderen. Gerade in einem Dorf, das vom Tourismus lebt.

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Olaf Nicolai, Gateway. AU RO RA, 2024. Foto: Willy Hafner

Wege zur Kunst

Engelberg, ein 900 Jahre altes Klosterdorf mitten in den Bergen, ist etwas in die Jahre gekommen. Der Ort hat schon bessere Zeit gesehen. Die Berghänge sind von Zweitwohnungen überzogen. In den Straßen sind – neben bergbegeisterten Wandersleuten – vor allem Bollywood-Fans aus dem Fernen und Hitzeflüchtlinge aus dem Nahen Osten zu sehen. Das Tourismusmanagement setzt auf Gäste aus der Ferne. Werbetafel und Wegweiser auf Arabisch, Hindi und mit chinesischen Schriftzeichen sind selbstverständlich. Englisch ist in Downtown die Umgangssprache. Schwyzerdütsch hört man nur selten. Zum Beispiel bei Heidi Waser. Sie ist eine von vielen Freiwilligen – jungen Leuten oder gestandenen Engelberger*innen, die die Kunst bewachten und bei Bedarf erläuterten. Ende Juli steht sie vor dem Schuhmacherhäuschen; einem der Highlights der für Besucher*innen kostenlosen Ausstellung. 1996 wurde die Werkstatt ihres Urgroßvaters geschlossen. Im Rahmen von Backstage ist sie erstmals wieder offen. Alles ist dort, wie es einmal war – unverändert und unberührt seit fast 30 Jahren. Drinnen stehen Leisten, Nähmaschinen und Werkzeug eines längst verstorbenen Handwerkers. Es ist eine Reise in die Vergangenheit. Der in Berlin lebende, an der Akademie der Künste in München lehrende Olaf Nicolai wollte dem Ort zu Beginn anfänglich nichts hinzufügen, so fasziniert war er, als er das Häuschen zum ersten Mal betrat. Am Ende entschied er sich für eine „Intervention“: Im Sommer 2024 steht mitten in der alten Werkstatt ein alter Fernseher. Auf dem Bildschirm sieht man in einem mit Gesang unterlegten Film ferne Galaxien; Bilder vom Carina-Nebel, einem hellen Emissionsnebel, etwa 7.700 bis 9.600 Lichtjahre von der Erde entfernt. In der ehemaligen Werkstatt eines fast ausgestorbenen Handwerks versinken die Besucherinnen und Besucher für kurze Zeit in Bildern von Zeit und Ewigkeit. Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart sind mit einem Mal eins. Gleich nebenan, in einem Fünfsterne-Hotel am Kurpark, spricht die junge Rezeptionistin Englisch. Hier hat der Frankfurter Anselm Baumann ein Objekt zwischen Vase und Skulptur aufgebaut, das er Schöne Aussicht nennt. In Engelberg kennt man sich aus mit schönen Aussichten. Landschaft und alpine Kulisse werden dort seit vielen Jahren gekonnt in Szene gesetzt – prestigeträchtig und lukrativ. Hier, wie im ganzen Ort, wird der Moment gefeiert. Vor dem Hotel steht mitten im Kurpark eine majestätisch anmutende Riesenplastik von Leiko Ikemuras, eine Art begehbare Hasenfrau, souverän wie Werbefigur. Dass ganz in der Nähe ein paar niedliche Gämsen, ebenfalls aus Bronze, grasen, ist ein sicher gewollter Kontrast; Kunst trifft Kitsch – oder umgekehrt.

2 Anselm Baumann
Anselm Baumann, Schöne Aussicht, 2024. Foto: Willy Hafner

3 Leiko Ikemura
Leiko Ikemuras, o.T., 2024. Foto: Willy Hafner

Gut ausgeschildert lässt sich ein paar Meter entfernt die ehemalige Kegelbahn des Hotels Engelberg finden. In dem feucht-dunklen Schlauch, in dem nur noch der Kugelrücklauf an der Seitenwand an die ehemalige Verwendung des Raumes erinnert, projiziert Zilla Leutenegger Zeichnungen, die den Schatten der Besucher in die Projektionen integrieren. Ihre Installation ZillaGorilla macht die Bedeutung von Räumen als Speicher von Erinnerungen, als Orte der Sehnsucht, der Ängste und Träume, aber auch von Hoffnungen deutlich.
Im ehemaligen Pfisterhuesli (Backstube) war die Tarotkarte des Gehängten für Fabian Marti der Ausgangspunkt zu einer Frage nach den Grenzen des Wissens. Schillernde Torsi aus Harz mit menschlichem Umriss hängt er kopfüber auf im Dachgeschoss.
Auch der in Genf lebende Séverin Guelpa umkreist soziale, ökologische und politische Herausforderungen vor dem Hintergrund technologischer und territorialer Entwicklungen. Er tastet in einem ehemaligen Ochsenstall die Möglichkeiten des zukünftigen Zusammenlebens ab. Dafür lebt und arbeitete er in extremeren Landschaften. In seiner Arbeit De profundis terrae geht er den sichtbaren Spuren des klimabedingten Wandels hochalpiner Landschaften nach.

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Zilla Leutenegger, ZillaGorilla, 2021. Foto: Willy Hafner

Kein ĂĽblicher sommerlicher Skulpturenpark

In Engelberg zog sich die Kunst nicht auf die Hinterbühne zurück. Hier prallten mitten im Dorf Unheimlichkeit auf Gemütlichkeit und das scheinbar dörfliche Idyll auf künstlerisches Schaffen. Gerade deshalb hob sich die Schau deutlich von den üblichen Sommer-Freiluftausstellungen ab; vor allem von solchen, die Tourismusmanager*innen mit beliebigen Außenskulpturen veranstalten, um mehr Besucher*innen in ihre Gemeinde zu locken. Die Ausstellung in Engelberg schuf zusammen mit einem verständlich formulierten Audioguide eine alternative Landkarte eines vom Tourismus geprägten Ortes. Die Texte des Guides hatten wenig gemein mit den im musealen Kontext üblichen Beschreibungen, die meist nur den Diskurs einer weltfremden Kunstblase füttern. Sie luden die Besucher und Besucherinnen ein, das zu sehen, was zu sehen ist, und ihren Blick auf die Welt zu schärfen.  

SĂ©verin Guelpa, Aletgletscher, 2023. Photo: Willy Hafner
SĂ©verin Guelpa, Aletgletscher, 2023. Foto: Willy Hafner

Diesen Artikel verfasste Willy Hafner auf Deutsch.

 

 

 

 

Ăśber den Autor/ die Autorin

Willy Hafner

Willy Hafner ist MĂĽnchner Kunsthistoriker und organisierte 2019 zusammen mit Eva Wolf und Angelika Hein das erste und zweite Sculpture Network Lab. Seitdem berichtet er fĂĽr uns von spannenden Skulptur-Projekten in Deutschland und darĂĽber hinaus. Er ist Mitglied des Patronatskomitees des Centro Internazionale di Scultura und hilft, die kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung des Projektes zu unterstreichen.

Ăśbersetzung

Sybille Hayek

Sybille Hayek ist Lektorin und Ăśbersetzerin. Seit 2022 unterstĂĽtzt sie unser Team ehrenamtlich mit ihrem geschulten Blick fĂĽrs Detail und einer groĂźen Liebe zur Sprache.

Galerie

Fabian Marti, Hanged Man, 2016. Photo: Willy Hafner
Fabian Marti, Hanged Man, 2016. Photo: Willy Hafner
SĂ©verin Guelpa, Aletgletscher, 2023. Foto: Willy Hafner
SĂ©verin Guelpa, Aletgletscher, 2023. Foto: Willy Hafner
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