Das Reiben von Statuen: Ein Ritual der Berührung
Haben Sie schon einmal die Nase von Abraham Lincoln in Springfield, Illinois, berührt, für ein Quentchen Glück, oder die Füße von St. Peter im Vatikan gerieben? Sie sind nicht allein! Lassen Sie uns herausfinden, warum wir das Bedürfnis haben, manchen Statuen näher zu kommen als anderen – und ob sie uns in der Tat Glück bringen.
In vielen Städten der Welt, von Paris bis New York, gibt es sie: diese eine Bronzeplastik, die durch ihren markanten goldenen Schimmer auffällt und von Hunderttausenden von Händen poliert wurde. Und das meist an einer etwas unpassenden Stelle. Das Reiben öffentlicher Bronzeplastiken ist zu einem Ritual unter Touristen und Einheimischen geworden, und zwar in solchem Maße, dass dieser Akt eine eigene Terminologie und eine eigene Wikipediaseite erhalten hat: Statue Rubbing.
Die meisten Statuen versprechen irgendeine Art von positiver Gegenleistung für diese Handlung: Das Berühren der Brüste der Statue der Julia in Verona soll bei romantischen Unternehmungen helfen, trotz des tragischen Endes von Shakespeares Heldin Julia, der die Statue nachempfunden wurde; das Reiben am Schritt der Figur des Victor Noir, die auf dem Grab des Journalisten auf dem berühmten Pariser Friedhof Père Lachaise steht, soll Unfruchtbarkeit verhindern; und das Anfassen der Hoden des bronzenen Bullen an der New Yorker Wall Street verspricht Glück für hoffnungsvolle Investoren. Um manche Statuen ranken sich sogar Legenden, die diese besondere positive Wirkung zu begründen suchen. Die kleinen Löwenköpfe vor der Münchner Residenz mit ihren glänzenden Nasen sollen beispielsweise von einem vom Glück begünstigten Dichter berührt worden sein, der ein wenig schmeichelhaftes Gedicht über den König geschrieben hatte. Als ihn der König, statt ihn zu enthaupten, ziehen ließ und ihn noch dazu großzügig belohnte, da er von seinem geschickten Wortspiel so angetan war, war der Glückspilz so erleichtert, dass er sich beim Verlassen der Residenz auf die Löwen vor dem Gebäude stützen musste, um Halt zu finden. Es heißt, dass etwas von diesem unglaublichen Glück auf die Passanten abfärbt, wenn sie eben diese Nasen berühren.
Sind wir etwa nur abergläubisch?
Die meisten der oben genannten Statuen versprechen demjenigen, der sie berührt, großes Glück. Der Akt des Berührens wird zu einem Mittel, um mit einem Kunstwerk in Verbindung zu treten und nicht nur das, sondern tatsächlich etwas von diesem Kunstwerk zu erhalten. Etwas, das ein wenig handfester ist als die Ehrfurcht und Inspiration, die wir vielleicht beim Betrachten empfinden mögen. Wenn wir dem Ritual folgen, hoffen wir auf ein bisschen Glück in unserem Leben, das sich in Form von konkreten Belohnungen wie einem Lottogewinn oder der lang erwarteten Einladung zum Rendezvous mit unserem Schwarm manifestiert. Aber wer glaubt in der heutigen Zeit eigentlich noch daran, dass eine Statue magische Eigenschaften besitzt, die sich durch Berührung übertragen lassen? Wahrscheinlich die wenigsten der Menschen, die diese Handlung vollziehen. Warum also fühlen wir uns bemüßigt, diese Skulpturen zu berühren?
Viele der Bronzeplastiken, die uns im öffentlichen Raum begegnen, sind Abbildungen realer Menschen, einige von ihnen historische Figuren, andere mythologische oder auch literarische Helden und Heldinnen. Oft in Lebensgröße gehen, sitzen oder stehen sie inmitten von uns. Der Kunsthistoriker David J. Getsy beschreibt die Beziehung zwischen Statue und Betrachter wie folgt: „Die Begegnung mit der Statue ist einer Begegnung mit einer anderen Person ähnlicher als jede zweidimensionale Darstellung es sein könnte.“[1] Allerdings, so führt er weiter aus, bleibt eine Statue unbeweglich, stumm und im Grunde leblos, ganz gleich, wie geschickt auch immer eine Illusion von Bewegung erzeugt werden mag. Diese Passivität – oder, wenn man so will, der performative Akt der Stille – ist es, was eine Statue von denjenigen, die sie betrachten, unterscheidet, Menschen aus Fleisch und Blut, und es ist genau diese Unterscheidung, die die Betrachter verstärken wollen, wenn sie mit der Statue interagieren, so Getsy. Durch das Berühren einer Statue versichern wir uns in gewisser Weise unserer eigenen Menschlichkeit, unserer Macht über ein Objekt, das uns zwar ähnlich sieht, uns aber nicht zu übertreffen vermag. Die Statue selbst aber bleibt in ihrem „passiven Widerstand“[2], davon unbeeindruckt und provoziert uns zu weiteren Handlungen, die von Vandalismus über sanfte, neugierige Berührungen bis hin zum Reiben als Mittel zum Glück reichen.
Mehr als nur Vergnügen: Demokratisierung der Kunst
Auch wenn das Reiben von Statuen auf den ersten Blick nicht viel mehr als ein frecher Spaß mit den Geschlechtsteilen einer Statue sein mag – man denke nur an Molly Malone in Dublin! – oder einfach eine Gelegenheit für Touristen, Fotos zu schießen, zeigt die Analyse von Getsy, dass es mehr als das ist. Und es gibt vielleicht noch eine andere Erklärung dafür, warum wir uns von den glänzenden Teilen öffentlicher Bronzeplastiken angezogen fühlen. Der Drang, ein Kunstwerk zu berühren, kann in anderen Bereichen nur selten befriedigt werden. Die meisten Museen und Galerien verbieten ihren Besuchern das Berühren der Exponate ausdrücklich. Manche mit gutem Grund, aus konservatorischen Gesichtspunkten, andere, weil man das eben so macht. Wir sind es gewohnt, Kunst aus der Ferne zu bewundern. Was nicht bedeutet, dass wir sie nicht gerne anfassen würden. Manche Werke, vor allem Skulpturen, wecken allein schon durch ihre physische Präsenz den starken Wunsch in uns, sie zu berühren und sie mit mehr Sinnen als nur sehend zu erkunden. In den meisten Fällen bleibt das Berühren einer Skulptur jedoch ein Privileg des Museums- oder Galeriepersonals, der Restauratoren und Restauratorinnen und der Sammler und Sammlerinnen. Historisch gesehen könnte das Berühren von Skulpturen sogar als ein elitäres Privileg angesehen werden, wie die Museologin Fiona Candlin betont.[3] Sie verdeutlicht, dass die Erkundung von Exponaten durch Berührung in vergangenen Jahrhunderten nicht unüblich, sondern der Oberschicht vorbehalten war. Heute kann jeder, der über die finanziellen Mittel verfügt, ein Kunstwerk zu erwerben, das Gefühl der Berührung auskosten, während es für die meisten anderen Kunstinteressierten ein unerfüllter Wunsch bleiben wird.
Öffentliche Kunst hat die Macht, Klassenunterschiede zu überwinden und Chancengleichheit herzustellen. Sie ist für jeden zugänglich, sieben Tage die Woche, vierundzwanzig Stunden am Tag. Kein Alarm, kein Sicherheitspersonal, nichts hält neugierige Hände davon ab, sie zu erkunden. Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, unabhängig von ihrer Herkunft, können sich ihr nähern und sie mit allen Sinnen erleben – nun ja, mit den meisten ihrer Sinne. Glücklicherweise scheint das Ablecken von Statuen noch nicht entdeckt worden zu sein, obwohl das Küssen bestimmter Statuen mancherorts bereits als Glücksritual Anwendung findet. Das Besondere an den Bronzeplastiken im Bereich der Kunst im öffentlichen Raum ist das Signal, das sie an uns senden. Die glänzenden Stellen scheinen nach uns zu rufen, sie dulden nicht nur Berührungen, sondern verlangen geradezu danach. Städteführer, Reiseführer und sogar Schilder neben diesen Statuen geben uns die Erlaubnis, zu tun, was uns sonst verwehrt bleibt. In gewisser Weise eröffnen uns die öffentlichen Skulpturen einen demokratischeren Prozess der Kunsterfahrung.
All dies verdeutlicht: Das Reiben von Statuen bringt zwar nicht per se das Glück, hat aber durchaus positive Auswirkungen auf die Gemeinschaft. Allerdings sollten wir die berechtigten Bedenken im Zusammenhang mit dieser Praxis nicht verschweigen: Einige Statuen haben durch die vielen eifrigen Hände erhebliche Korrosionsschäden erlitten. Die 1969 vom Bildhauer Nereo Costantini geschaffene Statue der Julia von Verona musste beispielsweise 2014 durch eine Replik ersetzt werden, um das Original zu erhalten. Reiben wir also unsere Statuen mit Sorgfalt und Umsicht, damit sie noch vielen Generationen Glück – oder etwas Ähnliches – bringen können.
[1] David J. Getsy (2014): Acts of Stillness: Statues, Performativity, and Passive Resistance. In: Criticism, Vol. 56, No. 1, S. 1–20.
[2] Ebd.
[3] Siehe Fiona Candlin (2008): Museums, Modernity and the Class Politics of Touching Objects. In: Touch in Museums. Policy and Practice in Object Handling, ed. Helen J. Chatterjee, London/New York: Routledge, S. 9–20.
Fotos:
Nereo Costantini, Juliet: CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/us/>, via Flickr.
Hubert Gerhard, Bronze Lions: CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons.
Jules Dalou, Tomb of Victor Noir: CC BY-SA 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0>, via Wikimedia Commons.
Jeanne Rynhart, Molly Malone: CC BY 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/2.0>, via Wikimedia Commons.
Gutzon Borglum, Head of Abraham Lincoln: CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons.
Diesen Artikel verfasste Sophie Fendel auf Englisch.