Ann Weber, Strange Fruit, 2007
Magazin

Über die zarte Kraft von Papierskulpturen

Bericht: Online Club "Papier als skulpturales Material II"

Wenn man an Bildhauerei denkt, ist Papier sicher nicht das Material, das einem zuerst in den Sinn kommt. Schließlich sind Steine oder Metalle viel stabiler, und Papier wirkt im Vergleich dazu geradezu brüchig. Doch welch faszinierende Möglichkeiten dieses Material bietet, veranschaulichten einige Künstler und Künstlerinnen im Rahmen des Online Clubs am Montag, dem 17. Juni 2024, der von der Kuratorin Anne Berk geleitet wurde.

Karton von der Straße

Die in Los Angeles, USA, lebende Künstlerin Ann Weber arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre mit Karton und gestaltet daraus seltsam geformte Säulen und massive bauchige Kugeln. Anfangs hatte sie mit Ton gearbeitet, bevor sie begann, mit Pappen, die sie auf der Straße fand, zu experimentieren. Sie entdeckte, dass sie mit diesem Material riesige skulpturale Objekte herstellen konnte. Um dauerhafteres Material zu verwenden, goss sie auch einmal einige Kugeln in Bronze, entschied dann aber, dass Karton besser für ihre Skulpturen geeignet sei.

Ann Webers Formen und Werktitel wollen eine Geschichte erzählen. Ihre großen Säulen in Form von Minaretten nennt sie "Middle East", ein Begriff, der zu Beginn des Golfkriegs in aller Munde war. Eine Kugel mit einem großen fließenden Rock trägt den Titel "Marie-Antoinette". Letztere hat sie in Deutschland aus farbigem Karton hergestellt, den sie im Supermarkt gefunden hat. Über diesen Fund war sie froh, da sie den Eindruck hatte, die Deutschen würden alle Pappkartons zerreißen und entsorgen, und es für sie hier nicht so einfach wäre, einfach irgendwelche auf der Straße aufzusammeln. 

Ihr Werk will nicht dezidiert politisch, sondern offen sein. Eine Arbeit, die sie für eine Bibliothek in Kalifornien angefertigt hat, zeigt einen riesigen Korb mit Buns und Bagels - eine Anspielung auf die USA als „Kornkammer der Welt". Der Korb balanciert auf einem Ball, was zeigt, wie fragil die Situation ist und dass dieser Status im Handumdrehen verloren gehen kann. Webers neuere Arbeiten sind von Graffiti-Schriftzügen inspiriert, die sie an den Wänden von Los Angeles entdeckte und die sie in geschlängelte Formen und bunte Kartonskulpturen umgesetzt hat. In dem Falle wurde hier auch neu die Form wie schon das Material auf der Straße gefunden.

Die Ökologie des Pergaments

Im Gegensatz zu Webers Wiederverwendung von Altpapier stellt der deutsche Künstler Helmut Frerick seit Jahrzehnten seinen eigenen Werkstoff auf Pflanzenbasis her, da für ihn eine ökologische Herangehensweise zentraler Bestandteil seines Schaffensprozesses ist. Heute sind diese Werte im Zusammenhang mit dem Klimawandel allgegenwärtig, aber Frerick verwendet bereits seit Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit in den 80er Jahren Pflanzenfasern, gefiltertes Regenwasser und erneuerbare Energie.

Er schafft Innen- wie auch Außeninstallationen, die mit ihrer minimalistischen Form an prähistorische Werkzeuge und Zeichnungen erinnern, wobei er versucht, den Einsatz aller Chemikalien zu vermeiden, die die Erde schädigen könnten. Bei einigen dieser Installationen ist es Teil des Prozesses, dass sich das Kunstwerk selbst zerstört. So schuf er eine Papierskulptur, die im Fluss steht, sich langsam zersetzt und wieder Teil des natürlichen Kreislaufes wird.

Angefangen hat Frerick mit Pappmaché, einem Material, mit dem man kleinen Kindern beibringt, eigene Skulpturen zu kreieren. Im Laufe der Jahre entwickelte er seine Technik weiter, indem er selbst hergestelltes Pergament verwendete, um daraus wolkenähnliche Kugeln zu entwickeln und ihnen mit Hilfe von Lichtern eine geheimnisvolle Atmosphäre zu verleihen. Seine Skulpturen stehen in Kirchen, Hotellobbys und Wohnungen, so dass diese traum-haften Objekte Teil des täglichen Lebens werden.


Das Theater des Papierschneidens

Die Papierkunst des armenischen Künstlers Karen Sargsyan hat eindeutig theatralische Qualität. Da es ihm unmöglich war, im sowjetischen System als Künstler Fuß zu fassen, ging er 1991 zum Studium an die renommierte Rijksakademie in Amsterdam, NL. Er war fasziniert von der Verletzlichkeit des Papiers und begann, monumentale Skulpturen aus leuchtend buntem Papier zu schaffen. 

Der Bildhauer stellt lebensgroße Figuren aus Papier her, die mehrere Schichten von Masken tragen, wie sie in Theatern auf der ganzen Welt verwendet werden, um verschiedene Charaktere und Emotionen darzustellen. Manchmal haben diese Masken sogar etwas Gespenstisches, wenn hinter den Papierschichten plötzlich ein Augenpaar zum Vorschein kommt. In seinem Werk "New Gravitation" für das Groninger Museum in den Niederlanden füllte er einen ganzen Raum mit seinen Skulpturen und schuf damit ein vibrierendes Tableau vivant, in dem die Figuren direkt auf einen zuzuspringen scheinen. 

Sargsyans Kunstwerke sind in der Regel ordentlich geschnitten, aber in dem Werk "The Operation" treibt er das Motiv des Schneidens auf die Spitze. Wir sehen einen bekritzelten Tisch, der völlig chaotisch aussieht. Dann entdeckt man Gliedmaßen und Körperteile, die herumliegen und unter dem Tisch hervorquellen. Mit dieser Arbeit bezieht er sich auf den medizinischen Operationstisch und das mulmige Gefühl, das einen kurz vor einer Operation befällt, wenn man sein Leben in die Hände eines anderen legt und man so verletzlich ist. Gleichzeitig verweist er auf seine eigenen „Operationen“, bei denen er mit chirurgischer Präzision Papier schneidet und zum Leben erweckt.

Über den Autor/ die Autorin

Sietske Roorda

Sietske Roorda (Amsterdam, NL) ist eine niederländische Kunstkritikerin, Autorin und Podcasterin, die sich auf zeitgenössische Kunst spezialisiert hat und ein besonderes Interesse an politisch engagierter und feministischer Kunst hat.

Übersetzung

Ursula Karpowitsch

Ursula Karpowitsch interessierte sich anfangs nur für "Flachware", bis sie schimmernde Bronzen entdeckte. Für Sculpture Network schreibt sie Berichte von unseren Veranstaltungen und spannenden Ausstellungen und übersetzt Texte.

Galerie

Karen Sargsyan, Enter the Light, 2023
Karen Sargsyan, Enter the Light, 2023
Ann Weber, Personages Watch on Me
Ann Weber, Personages Watch on Me
Helmut Frerick - Lichtmoment Torso
Helmut Frerick - Lichtmoment Torso
Karen Sargsyan, Selfie, 2017.
Karen Sargsyan, Selfie, 2017.
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