Zwei Kalksteine als Soundbox
Noch bis 18. Juni stehen in den Münchner Isarauen – in der Nähe des Deutschen Museums – zwei konkav geformte, tonnenschwere Findlinge aus Litauer Kalkstein. Jeden Dienstag um 17 Uhr wird daraus eine Soundskulptur. Copper Lick nennt Lina Lapelyté ihre „Klangsteine“. Sie fangen die Geräusche der Umgebung wie eine große Satellitenschüssel ein.
Lina Lapelyté, in Litauen geboren, arbeitet als Komponistin, Musikerin, Regisseurin und bildende Künstlerin. 2019 gewann sie mit der performativen Oper Sun & Sea den Goldenen Löwen der Biennale in Venedig. Zusammen mit dem ebenfalls litauischen Architekten Mantas Peteraitis hat sie eine Partitur für Kirchturmglocken komponiert und dazu eine „klingende Skulptur“ entworfen. Lapelyté ließ zwei Kalksteinblöcke auf ihrer Vorderseite ähnlich einem Parabolspiegel aushöhlen. Anschließend wurden die Blöcke präzise, an eine Muschel erinnernd, nebeneinandergestellt. An ihren feingeschliffenen Oberflächen werden Einschlüsse wie Versteinerungen oder Schlieren sichtbar. Fische, Amphibien und Insekten, die in dem warmen und trockenen Klima des im Paläozoikum entstandenen Sedimentgesteins lebten, lassen den Zustand der damaligen Welt erahnen.
Die Geräusche der Stadt
Jeden Dienstag, kurz vor 17 Uhr, läuten die Glocken der sechs Kirchen der Umgebung. Die Skulpturen fangen den Schall ein, reflektieren und verstärken ihn. Davor tritt ein Chor aus Sängern und Sängerinnen auf, der gemeinsam mit den Glocken singt: Das Rauschen der nahen Isar, der Lärm der vorbeifahrenden Autos und das Rascheln der Bäume in der Nachbarschaft überlagern sich.
Die Hohlform der Steine, die an ein menschliches Ohr erinnern, macht die akustische Vielfalt der Stadt hörbar. Dem Klang der Glocken setzt Lina Lapelyté die Bedeutung der menschlichen Stimme entgegen. Für sie ist die Stadt voller Geräusche. Man hört das Rauschen des Flusses, das Dröhnen des Verkehrs, zwitschernde Vögel, Kinderstimmen und – je nachdem, woher der Wind weht – die Glocken der Kirchen. Glockenklänge sind für die Lapelyté omnipräsent im öffentlichen Raum: Menschen denken an Gottesdienste oder an die Uhrzeit. „Ich verwende die Glocken der Kirchen als Instrument, um die menschliche Stimme zu begleiten, um sie neu zu gewichten“, sagt sie. Die Künstlerin verwebt die Stimmen der Sängerinnen und Sänger mit dem Lärm der Stadt und dem Geläut der Kirchtürme zu einem stimmungsvollen Klangteppich. Die Glocken wurden für das Projekt so programmiert, dass sie nicht alle auf einmal, sondern in einer bestimmten Reihenfolge läuten und unterschiedlich deutlich vernehmbar sind; je nachdem, wie nah oder weit sie entfernt sind.
Lina Lapelyté setzt dem heute üblichen, lauten und unüberhörbaren Verkünden der eigenen Meinung des Einzelnen, dem oft aggressiven Verlautbaren des Persönlichen das diffuse Lauschen und das stille Zuhören der Mehrheit entgegen. Sie hat keine festnotierte Partitur komponiert. Ihr geht es um die vielfältigen Themen und Zeichen der Zeit: um einen kontemplativen Hörraum, der alle Menschen verbindet. Copper Lick wurde ortsspezifisch für München konzipiert und vom städtischen Kulturreferat realisiert. Hier geht es nicht um Skulpturen oder Plastiken im herkömmlichen Sinn; nicht um die bekannte, oft bezugs- und zusammenhangslos selbstbezüglich Autonomie reklamierende Kunst im öffentlichen Raum, die als Denkmäler, Stadtmobiliar oder Dekor irgendwo herumsteht. Lina Lapelyté geht es darum, Gespräche anzuregen und das aufzugreifen, was in der Gesellschaft an Debatten oder an sozialen Spannungen pulsiert.
Lina Lapelyté, geboren 1984 in Litauen, lebt und arbeitet in London und Vilnius. Die Künstlerin hat einen Bachelorabschluss in klassischer Violine und einen Master in Bildhauerei. Ihre performance-orientierten Arbeiten sind in der Musik verwurzelt, kokettieren mit der Popkultur, den Geschlechterstereotypen und der Bildhauerei. Ihr Thema ist nicht die Verklärung der Vergangenheit, sondern die Krise der Gegenwart.
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Weitere Infos:
https://www.publicartmuenchen.de/projekte/copper-lick/
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Diesen Artikel verfasste Willy Hafner auf Deutsch.
Titelbild: Die Klangskulptur Copper Lick steht am Kabelsteg zwischen dem Alpinen Museum und der Muffathalle am Rande des MĂĽnchener Stadtteils Lehel.
Foto: Willy Hafner, MĂĽnchen