Das verborgene Leben des Granatapfels
Die in Belgien geborene Künstlerin Viviane Brickmanne ist durch Zufall auf den Granatapfel als Material für ihre Skulpturen gestoßen. In diesem Artikel gewährt uns das Sculpture Network-Mitglied Einblick in einige ihrer Erkenntnisse und Erfahrungen.
In der Geschichte hat der Granatapfel eine lange Tradition, in den unterschiedlichsten Religionen und Kulturen gilt er seit langer Zeit als wichtiges Symbol für Leidenschaft und Auferstehung, Wohlstand, Überfluss und Fruchtbarkeit. Er ist eine besonders überlebensfähige Frucht, die in Wüstengebieten sehr geschätzt wird. Durch seine dicke Schale und das robuste Kerngehäuse kann der Granatapfel lange Reisen durch die Wüste überstehen, ohne dass seine Nährstoffe verloren gehen. Die alten Ägypter wurden mit Granatäpfeln begraben, auch sind Darstellungen der Frucht in ägyptischen Basreliefs zu finden. Künstler der Renaissance wie Fra Angelico († 1455) und Sandro Botticelli († 1510) verwendeten den Granatapfel in ihren religiösen Gemälden als Symbol für Auferstehung und Wiedergeburt ebenso wie für Vergebung und Erlösung. Bis heute besitzt der Granatapfel eine besondere Symbolkraft, die über seine eigentliche Bedeutung hinausgeht: Seit 1492 ist ein Granatapfel Teil des spanischen Wappens, und er ist heute das Wahrzeichen der Stadt Granada.
Eine amüsante Tatsache: Juden begehen das Neujahrsfest mit dem Verzehr von Granatäpfeln, da diese wegen ihrer zahlreichen Samen als ein Symbol für Fruchtbarkeit gelten.
Abgesehen von diesen symbolischen Bedeutungen ist der Granatapfel auch ein materielles Objekt – ein Objekt, das den künstlerischen Prozess nicht nur anregen, sondern auch als Werkzeug dafür dienen kann. Als ich 2016 bei einem Besuch in Tablas de Daimiel (einem Naturschutzgebiet in Spanien) an einem Baum hängende Granatäpfel sah, sah ich mehr als nur verwesende Früchte. In den Unvollkommenheiten der Früchte sah ich ein Potenzial, eine Inspiration für künstlerischen Ausdruck. Ich habe sie gepflückt und aus ihrem natürlichen Lebensraum in mein Atelier gebracht, und damit habe ich sie einer neuen Bedeutung zugeführt.
Der Anblick von verformten und verfärbten Granatäpfeln, die von Vögeln gefressen werden, lädt uns ein, über eine tiefgründige Metapher nachzudenken: den Übergang von Unvollkommenheit zu dauerhafter Schönheit. Diese Granatäpfel sind eine Manifestation des Kreislaufs des Lebens. Sie entstehen als Samen und verwandeln sich nach einer gewissen Zeit in Nahrung für Vögel und andere Lebewesen. In diesem Wechselspiel zeigt sich ein Gefühl der Gegenseitigkeit und der Verbundenheit, das uns daran erinnern soll, dass alle Lebewesen in gegenseitiger Abhängigkeit zueinander stehen und jedes seine Rolle im Spiel des Lebens spielt.
Die Transformation dieser Granatäpfel zu Skulpturen ist ein Akt der Neuentstehung. Meine Hände formen und gestalten sie aus Materialien wie Bronze, Aluminium oder sogar aus Gold- und Silberblechen. Dieser Prozess unterstreicht ihre Einzigartigkeit. Unvollkommenheit wird zu einem Kunstwerk durch eine veränderte Wahrnehmung von Schönheit. In diesem Schaffensakt reflektiere ich den Zyklus von Leben und Tod, den die Granatäpfel selbst durchlaufen haben. Granatäpfel, die von Vögeln gefressen werden, und die Umwandlung von Granatäpfeln in Skulpturen lassen den scheinbaren Verfall zu einer neuen schöpferischen Möglichkeit werden. Die vergehende Zeit wurde eingefangen.
Manchmal integriere ich einen Granatapfel in umgeformte Ziegelsteine, und so erhält die Frucht in Verbindung mit dem Ziegelstein eine poetische, ja geheimnisvolle Aura, da es sich um zwei sehr unterschiedliche Elemente handelt. Der Ziegelstein ist ein Bauelement, rechteckig, männlich und kraftvoll, während der Granatapfel eine Pflanze ist, rund, weiblich und fragil. Und dieses Spiel, diese Interaktion, dieser Dialog zwischen Granatapfel und Ziegelstein führt zu unterschiedlichen Ergebnissen und ermöglicht immer wieder neue Deutungen.
Haben Sie das gewusst? In der griechischen Mythologie wird der Granatapfel mit Persephone (Proserpina in der römischen Mythologie) in Verbindung gebracht, die Königin der Unterwelt durch ihre Heirat mit Hades. Sie war die Tochter von Zeus und Demeter, der Göttin der Erde und des Ackerbaus. Persephone wurde von Hades entführt. Angesichts der Verzweiflung ihrer Mutter Demeter zwang Zeus Hades, Persephone zurückzugeben. Sie hatte jedoch sechs Granatapfelkerne gegessen, was sie dazu zwang, die Hälfte eines jeden Jahres mit Hades in der Unterwelt und die andere Hälfte mit ihrer Mutter Demeter zu verbringen. Ihre Rückkehr an die Erdoberfläche markiert den Beginn des Frühlings. Dieser Mythos beschreibt die Zyklen der Landbewirtschaftung und den Wechsel der Jahreszeiten.
Der Granatapfel vereint scheinbar widersprüchliche Eigenschaften: Er ist Material und Symbol zugleich, ein Zeichen der Auferstehung und der Verbindung zur Unterwelt. Ein faszinierendes Objekt für die künstlerische Auseinandersetzung.
Video von Viviane Brickmanne: LADRILLOS y Granadas. VIVIANE BRICKMANNE