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Skulptur und Selbstfürsorge: Wie die Kunst von einem Trend zu persönlicher Entwicklung und mehr Selbstakzeptanz beeinflusst wird

Wie man schon in der Auslage vieler Buchläden erkennen kann, ist die Beschäftigung mit Selbstfürsorge und Selbsthilfe in Mode gekommen. Veränderungen in der gesellschaftspolitischen Dynamik auf der ganzen Welt haben zu einer Reaktion in Form sozialen Bewegungen wie Body Positivity, Inklusion und Selbstakzeptanz ausgelöst. Diese Veränderungen haben Einfluss auf die ästhetische Wahrnehmung und den Blick auf unseren Körper, und bewirken damit einen begrüßenswerten Wandel in der Norm.

Selbstfürsorge, Selbsthilfe und Selbstliebe sind jeweils eigene, aber ineinandergreifende Teile eines Trends zur Selbstakzeptanz und Selbstdarstellung in der heutigen Gesellschaft. 

Sie gründen in einem Wunsch sich persönlich Weiterzuentwickeln und zu Wachsen, seine eigenen Schwächen zu akzeptieren und diese Akzeptanz öffentlich auszudrücken und damit auch andere zu ermutigen. Es mag einst verpönt gewesen sein, einen Tag frei zu nehmen um sich eine Auszeit zu gönnen; heute wird die Bedeutung der körperlichen und psychischen Gesundheit in den Köpfen vieler angekommen.

Künstler wie Nicht-Künstler wenden sich gleichermaßen kreativen Praktiken zu, um die eigene Persönlichkeit und den Blick auf sich selbst zu erforschen, Selbstliebe zu lernen und den eigenen Ausdruck neu zu definieren. Die Beschäftigung mit Körperlichkeit in Form von Skulptur ist ein guter Weg dorthin. Das dreidimensionale Objekt bietet einen taktilen und greifbaren Stellvertreter für das Ich des Künstlers. Diese Form der Gestaltung ist sowohl für etablierte Künstler als auch für diejenigen zugänglich, die im Namen der Selbstliebe einen expressiven Zugang suchen.

Zu den etablierten Künstlerinnen gehört Yayoi Kusama, die derzeit den Titel der reichsten Künstlerin der Welt trägt. Kusamas produktive Karriere begann in den 1950er Jahren, neben erfolgreichen Zeitgenossen wie Donald Judd und Jackson Pollock. Inmitten des aufkeimenden Erfolgs zog sich Kusam von der anspruchsvollen New Yorker Kunstszene zurück und übersiedelte in den 1970er Jahren nach Japan, um sich von persönlichen Gesundheitsproblemen wie Erschöpfung und Überstimulation zu erholen.

1977 ließ sich Kusama freiwillig in das Seiwa-Krankenhaus für psychische Erkrankungen aufnehmen und lebt dort bis heute, was die Stabilität und Struktur der Institution als Zufluchtsort für die Heilung durch ihre Kunstpraxis anerkennt. „Es spielt für mich keine Rolle, ob ich im Krankenhaus arbeite, oder an einem anderen Ort mit begrenztem Raum. Jeden Tag schaffe ich mit all meiner Kraft neue Werke.“ sagt Kusama in einem Interview mit der Huffington Post.

In ihrer Autobiographie sagt die Künstlerin: „Ich bekämpfe jeden Tag Schmerzen, Sorgen und Ängste, und die einzige Methode, die ich gefunden habe, die meine Krankheit lindert, ist, immer wieder Kunst zu schaffen.“

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Yayoi Kusama’s "Pumpkin" (1994) on Naoshima Island in Japan, Creative Commons

 

Eines von Kusamas denkwürdigsten Werken, Pumpkin (1994), verdichtet die Themen Selbstakzeptanz und Selbstergründung. Themen, die in ihrer Kunst nach wie vor präsent sind. Kusama hat die Kürbisfrucht über Jahrzehnte (und Medien) hinweg als ihr Alter Ego beschrieben, „das eine Aura meines heiligen Geisteszustandes abgibt“, wie sie es in ihrem Gedicht On Pumpkins formuliert hat. Ausgehend vom Selbstbild der Künstlerin und ihrer Kindheitserfahrung beschreibt Kusama ihre symbolische Verbindung mit der Kürbisfrucht als Verbindung mit dem heilenden Selbst:

„Das erste Mal, sah ich einen Kürbis, als ich in der Grundschule war und mit meinem Großvater ein großes Saatguterntegebiet besuchte... Er begann sofort sehr lebhaft mit mir zu sprechen. Es scheint, dass Kürbisse nicht viel Respekt hervorrufen, aber ich war verzaubert von ihrer charmanten und gefälligen Form. Was mich am meisten ansprach, war die großzügige Bescheidenheit des Kürbisses.“ - So drückt der Kürbis in seiner skulpturalen Form das Selbstbild der Künstlerin sowohl für sie selbst, als auch ihr Publikum lebendig aus.

Die Bildhauerei und Plastik bietet aber über den symbolischen Aspekt hinaus aber auch die Möglichkeit zu taktiler Erforschung von Materialien und dem Einsatz in ungewöhnlichen Kontext, so bei dem Künstler Felice Tagliaferri, einem blinden italienischen Bildhauer, dessen professionelles Motto lautet: „Nicht berühren verboten".

Frustriert von der Unmöglichkeit dreidimensionale Kunstwerke visuell zu erleben, wurde Tagliaferri inspiriert, seine Kunstpraxisaus einer Rebellion gegen institutionelle Regeln über den physischen Kontakt mit den ausgestellten Werken zu entwickeln. Seine vor diesem Hintergrund entstandenen Werke wurden von Kunstfreunden auf der ganzen Welt gefeiert, vor allem wegen der aktiven Umsetzung des Inklusionsgedankens und der zusätzlichen haptischen Zugangsmöglichkeit zur Skulptur. Für Tagliaferri war diese Praxis eine natürliche Ergänzung seiner eigenen Möglichkeiten der Selbsthilfe durch das Kunstschaffen: „Ich verstand, dass ich mich durch meine Skulpturen ausdrücken und die Bilder in meinem Kopf, meine Träume, meine Gedanken, meine Kindheitserinnerungen der Welt zeigen kann.“

Das berühmteste Werk Tagliaferris ist Cristo Rivelato (Offenbarter Christus), eine Antwort auf Giuseppe Sanmartinos Cristo Velato (Verschleierter Christus) aus dem 18. Jahrhundert, den er bei seinem Besuch in der Cappella Sansevero in Neapel nicht taktil erfahren konnte. 

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Sculptor Felice Tagliaferri and Simona Atzoril, who was born without arms, working on the “Cristo Rivelato”, Chiesa Dell-Arte

 

Tagliaferris Version sollte Menschen eine Chance geben, Skulptur auf ihre eigene Art und Weise zu erfahren, auch wenn ihnen die Möglichkeit fehlt, sie zu sehen. Das Werk wurde durch die Mitarbeit von Menschen mit Behinderung hergestellt, die so an der Entstehung des der Form mitwirken konnten. Es wurde weltweit von blinden Menschen und Personen mit Behinderung einheitlich als heilsames Zeichen für künstlerische Integration gelobt. Die ultimative Belohnung für Tagliaferri: Der Cristo Velato ist jetzt auch für Blinde zugänglich - die Cappella Sansevero hat initiiert von Tagliaferris Arbeit ihre "no touch"-Politik geändert.

Die Kunstform der Skulptur bietet Künstlern aber auch die Möglichkeit, die Grundprinzipien der Selbstfürsorge und Selbstliebe gegenüber denen auszudrücken, die sich mit ihrer Arbeit beschäftigen. In einer Zeit zunehmender Vernetzung wird der Dialog zwischen Künstler und Förderer noch persönlicher und greifbarer, so dass sowohl die Erfahrungen des Künstlers als auch des Publikums die Entwicklung neuer Werke beeinflussen können.

Während die Beschäftigung mit Selbstliebe als Grundlage einer Kunstpraxis in Hinblick auf die Selbstreflexion im Werk keine phänomenale Neuerung ist, lässt sich eine wachsende Tendenz zum Künstler als Förderer, Motivator und Praktizierender der Bewegung feststellen.

Die in Berlin lebende Künstlerin (und ausgebildete Tänzerin) Helga Wretman ist ein Beispiel dafür. Im Jahr 2010 entwickelte Wretman ein Projekt mit dem Titel Fitness for Artists, das im Wesentlichen aus Fitnesskursen für Künstlerinnen und Künstler besteht, die einen körperliche Entlastung benötigen. Wretman hat viele Workshops zur Verbindung von Tanz und Kampfkunst in Museen auf der ganzen Welt veranstaltet, mit der Absicht, verschiedene Elemente ihrer Praxis zu kombinieren und gleichzeitig „befreundeten Künstlern zu helfen, ihre Kreativität zu kanalisieren, indem sie in einer Umgebung ohne Druck arbeiten“, schreibt das Magazin Frieze.

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“Fitness for Artists”, Helga Wretman; performance at Berlinische Galerie, Berlin, Nina Strassgütl

 

Während Fitness for Artists als Möglichkeit zur Selbsthilfe durch Anstrengung begann, entwickelte sich das Projekt schließlich zu einer Kritik des gesellschaftlichen Drucks, die Selbstoptimierung zu immer höheren Spitzen zu treiben – ganz besonders in Bezug auf den Körper. Wretman warnt milde vor einem zu egozentrischen Blick und ermutigt ihr Publikum, den Einfluss den Menschen aufeinander haben, wenn sie sich selbst einbringen, positiv zu nutzen. Positives in anderen Menschen zu bewirken, kann selbst eine Form der Selbstfürsorge sein.

Hier folgt die Kunst dem Leben, den gesellschaftlichen Trends: Da die Konzepte der Selbstfürsorge, Selbstliebe, Selbsthilfe und die damit verbundenen menschlichen Erfahrungen immer häufiger zum Ausdruck kommen, werden sich auch künstlerische Praktiken weiterentwickeln, um diesen Dialog zu fördern. Wenn auch in der skulpturalen Praxis (noch) nicht weit verbreitet, gibt es Methoden, die Künstler in jeder Phase des Kunstschaffens erleuchten oder beflügeln können. Vielen Künstlern ist klar, dass der Akt des Gestaltens selbst bereits eine eigene Form der Selbsthilfe ist. Es wird spannend sein, weiter zu beobachten, wie die Kunstform der Skulptur diesen Trend weiterführt.

 

Autorin: Chelsea McIntyre

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Die in Los Angeles lebende Künstlerin Chelsea McIntyre arbeitet in den Bereichen Skulptur, Text, Performance, Digital und Mixed Media. Ihre Arbeit wird durch Elemente der objektiven Psychoanalyse, der Institutionskritik, des russischen Konstruktivismus und des materiellen Fetischismus und Voyeurismus geprägt. Ihr besonderes Interesse gilt der Erforschung der die menschlichen Psyche und der Beziehungen zwischen Künstlerinnen und Künstlern und ihrem Publikum. Mehr über Chelsea und ihre Arbeit erfahren Sie hier.

 

Titelbild: “Cristo Rivelato”, Felice Tagliaferri

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