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Skulptur als Spiegel unserer Zeit

Alle, die am 11. Juli nicht bei unserem Dialogue im Landgut Anningahof dabei sein konnten, nimmt Koordinatorin Anne Berk mit auf eine virtuelle Reise durch den wunderschönen Skulpturenpark und die Geschichte der Niederländischen Skulptur seit den 1960ern.

Nach der Umwandlung von einem Bauernhof in einen Skulpturenpark, organisiert das Landgut Anningahof seit 2004 jährliche Ausstellungen. Der wunderschöne Park dient als Kulisse für Skulpturen von etablierten wie jungen Künstler*innen, und zeigt so die Entwicklung der niederländischen zeitgenössischen Skulptur von 1960 bis heute.

Ein Spaziergang durch den Skulpturengarten ist ein Vergnügen. Der Park bitetet visuelle Inspiration und regt mich zum Philosophieren über das Leben an: Warum machen Menschen Kunst? Warum auf eine bestimmte Art, in diesen Zeiten?

Diese Fragen haben mich bereits beschäftigt, als ich 1982 meine Ausbildung als Bildhauerin an der Universität der Künste in Amsterdam begann. So wurde ich Autorin, Kuratorin und Koordinatorin von sculpture network.

In den späten 1970er Jahren, der Blütezeit des Minimalismus, wurde die Bildhauerei als das logische Ergebnis eines bestimmten Umgangs mit einem Material gesehen, nicht weniger und nicht mehr. In seiner berühmten Verblist von 1967 beschrieb Richard Serra (1938, CA/USA), was man mit seinem Material tun kann: rollen, knittern, falten, lagern, binden, kürzen, drehen, zerknüllen, zerreißen, spalten, anspritzen, biegen, drehen oder aufhängen usw. Serras Verblist ist wie ein Kochbuch. Man wählt eines der 54 Rezepte aus, und voila: eine weitere Skulptur. Die minimalistische Skulptur war eine körperliche Erfahrung in einem materialistischen, säkularen Zeitalter.

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Ewerdt Hilgemann, (1938, DE) ,"Giants", 1999, Karbonstahl


Im Skulpturengarten auf Gut Anningahof findet man drei beeindruckende Skulpturen von Serras Kollegen, dem deutschen Bildhauer Ewerdt Hilgemann (1938, DE). Sie bestehen aus Metallvolumen, die durch einen unbekannten Prozess des Vakuumsaugens implodiert sind. Hilgemann fügt mit diesem Vorgehen Serras Verblist sozusagen ein weiteres Rezept hinzu.

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André Volten, (1925 – 2002, NL), Ohne Titel, 1985, Karbonstahl


Neben dem Teich befindet sich ein weiteres abstraktes Werk: eine meterlange Betonskulptur von André Volten (1925 - 2002, NL). Zwei aufrecht stehende Balken umschließen einen dritten, der nach vorne umgekippt zu sein scheint. Das Werk ohne Titel nutzt die elementare und abstrakte Ästhetik industrieller Materialien.

Im Minimalismus waren Geschichten tabu. Sie galten als Ballast, der den Blick auf die Kunst verstellt. Der Minimalismus kann als endgültiger Abschluss der Moderne des 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Auf der Suche nach einer Form von Erneuerung, die in der Lage war eine utopische neue Welt einzuläuten, wurden die Grenzen der Kunst immer weiter verschoben, bis die Kunst völlig entblößt war. Es war eine Sackgasse. Man konnte nur zurückgehen. Seit den 1980er Jahren kehrten die Künstler zu Kunsttraditionen und -stilen aus der Vergangenheit zurück, und so entstand die Postmoderne.

Henk Visch (1950, NL), "You Cannot Escape the Consequenses of Your Own Choice", 2011, Bronze
Henk Visch (1950, NL), "You Cannot
Escape the Consequenses of Your
Own Choice", 2011, Bronze

In den Niederlanden war Henk Visch (1950, NL) der erste, der zur menschlichen Figur zurückkehrte. Der als Schauspieler ausgebildete Visch war sich der kommunikativen Kraft der Geste bewusst. Mit Körpersprache kann man eine Geschichte erzählen, wie es Künstler seit Jahrhunderten tun. Im Anningahof präsentiert Visch eine überlebensgroße Skulptur einer sitzenden Frau. Mit verderehtem Torso wendet sie ihr Gesicht ab, als wolle sie die blutroten Tränen verbergen, die aus ihren Augen aufsteigen. You Cannot Escape the Consequences of Your Own Choice, ist der bezeichnende Titel der Arbeit von 2011.

Visch ist nicht an abstrakten Objekten interessiert. Diese weinende Frau hinterfragt unser Verhalten in einer Zeit, in der die Hoffnung auf eine bessere Welt verloren scheint. Wie seine Zeitgenossen, wie Juan Munoz, Antony Gormley, Berlinde de Bruyckere, Stephan Balkenhol, Kiki Smith, Lee Bul oder Yue Minjun, benutzt Henk Visch die menschliche Figur, um Fragen über das Leben zu stellen. Diese 'konzeptuelle Figuration' ist in erster Linie narrativ, wie ich in dem Buch und der gleichnamigen Ausstellung Auf der Suche nach dem Sinn beschrieben habe.*

Anne Wenzel (1972, DE), Under Construction (I Am My Own Prophet), 2016, Keramik, pulverbeschichteter Stahl
Anne Wenzel (1972, DE), Under Construction
(I Am My Own Prophet), 2016, Keramik,
pulverbeschichteter Stahl

Wir leben in unsicheren, suchenden Zeiten in denen es keine vorgefertigten Antworten gibt. Man muss sie selbst herausfinden. Das ist die Idee hinter Anne Wenzels (1972, DE) Serie Under Construction. Als würde sie die Me-Too-Bewegung vorwegnehmen, fertigte Wenzel eine Reihe von Büsten kämpferischer Frauen an, auf denen Slogans wie „Fuck the Dictator“, „Resist“ und „Don't Fear Freedom“ stehen. Diese Frauen treten nicht nur für ihre eigenen Rechte ein. Sie fordern nicht weniger als eine Veränderung der Gesellschaft, ohne ein Rezept dafür zu haben. Darüber hinaus verschont Wenzel ihre Heldinnen nicht. Sie sind geprellt und zerkratzt - aus Wenzels Sicht ist niemand zu 100 Prozent gut. Wir rätseln weiter.

 

 

 

Ivan Cremer (1984, NL) "Die Geburt des Apollo", 2019, Schrott, Metall, courtesy the artist

Ivan Cremer (1984, NL) "Die Geburt des Apollo",
2019, Schrott, Metall, Foto: courtesy the artist

Ivan Cremer in seinem Studio in Leipzig mit der Figur des Apollo
Ivan Cremer in seinem Studio in Leipzig
mit der Figur des Apollo
 
 

Wie Henk Vischs‘ menschlichen Figuren, spricht auch Die Geburt des Apollo (2019) von Ivan Cremer (1984, NL) den Körper des Betrachters an, allerdings sind seine Figuren eher leichtfüßig. Die Haltung der 9 Musen und des Gottes Apollon basiert auf George Balanchines Ballett Apollon von 1928. In seinem Atelier in Leipzig fühlt sich Cremer seine Figuren ein, um die richtige Emotion zu vermitteln. Anstelle klassischer Materialien wie Bronze Marmor zu verwenden, recycelt der Künstler gefundene Materialien, und gibt ihnen so ein zweites Leben.

Auffallend ist die Zahl der Tierskulpturen im Anningahof. Tom Claassen (1964, NL) schuf ein riesiges Nilpferd, das wie ein Spielzeugtier aussieht. Er sah das Tier in einem Teich im Zoo. Heute kennen wir Tiere nur noch in Gefangenschaft, als Haustiere oder als Kuscheltiere. Wir sind der Natur entfremdet und bedrohen andere Arten. Darauf verweist auch der beeindruckende sterbende Elefant von Kevin van Braak, den er mit Hilfe indonesischer Holzschnitzer anfertigte.

Rechts: Tom Claassen (1964, NL) "Hippomal", 2005, Polyester, Stahl;  Links: Kevin van Braak (1975, NL), "Elephant", 2015, Teakholz, ca. 850 x 350 x 140 cm
Rechts: Tom Claassen (1964, NL) "Hippomal", 2005, Polyester, Stahl;  Links: Kevin van Braak (1975, NL), "Elephant", 2015, Teakholz, ca. 850 x 350 x 140 cm

 

Die jüngste Künstler*innengeneration kehrt zur Formensprache des Minimalismus zurück, jedoch ohne die ernsthafte Strenge der Moderne. Ohne Titel von Jonathan van Doornum (1987, NL) ist eine vertikale Stapelung von Volumen, die an einen überdimensionalen Kühlschrank erinnert. Aber dieses Werk ist keineswegs abstrakt. Deo Volente - so Gott will - erinnert uns an unsere Verletzlichkeit. Haben wir das Leben unter Kontrolle?

„Die Kunst ist dazu da, den Menschen sich selbst zu offenbaren", sagte Henk Visch einmal. Seit Anbeginn der Menschheit schaffen Menschen Kunst, um die visuelle Realität zu ordnen und ihr einen Sinn zu geben. Das ist es, was uns menschlich macht.

 

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Anne Berk  

Anne Berk ist eine niederländische Kuratorin und Autorin und Koordinatorin von sculpture network. Sie kuratierte viele internationale Ausstellungen zu sozialen Themen, wie z.B. Liebes Ding - Object Love, 2020 im Museum Morsbroich Leverkusen; Jenseits des Körpers, 2018 im Kunstcentret Silkeborg Bad, DK; Auf der Suche nach dem Sinn. Die menschliche Figur in globaler Perspektive, 2005 im Museum De Fundatie, Zwolle, NL und Bodytalk. Die Neue Figuration in der niederländischen Skulptur der neunziger Jahre, 2004, im Museum Beelden aan Zee, Den Haag, NL. Im Jahr 2021 kuratiert sie die Ausstellung Rettet den Wald für das Museum Het Valkhof in Nijmegen, NL.

 

*Mensbeelden in Globaal Perspectief (Die menschliche Figur in globaler Perspektive), Waanders, 2015.

Titelbild: Marinke van Zandwijk, Bellenkraan - Building Paradise 5.0, 2020, Holz, Seil, mundgeblasenes Glas

 

 

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