Sense of Place – Ortsspezifische Kunst im Küstengebiet der nördlichen Niederlande
Wie fühlt man sich zu Hause in einer globalisierten Welt? Mit Sense of Place öffnet uns Joop Mulder die Augen für die Seele des Ortes, der ihm so teuer war: die friesische Landschaft und das Watt der nördlichen Niederlande. „Ich gebe den Leuten ein Werkzeug an die Hand, um mit dieser charakteristischen Landschaft in Beziehung zu treten“, so nennt er sein Anliegen.
Joop Mulder (1953-2021, NL) hat vor vierzig Jahren das Oerol Festival initiiert. Dieses berühmte Theater- und Kunstfestival fand vor dem schönen Hintergrund der Insel Terschelling statt, wo Sense of Place entstand. 2018 jedoch hat sich Mulder vom Open-Air-Theater abgewandt und sich auf ortsspezifische Kunst konzentriert, bei der die Landschaft die Hauptrolle spielt. In diesem Jahr ist Joop Mulder völlig unerwartet gestorben, doch sein visionäres Sense of Place besteht weiter.
Sense of Place
Die Niederlande befinden sich dort, wo sich Land und Wasser begegnen. Der größte Teil der „Niederen Lande“ liegt unter dem Meeresspiegel und musste der See ab gewrungen werden.
Mit Sense of Place wollte Joop Mulder die Aufmerksamkeit auf diesen charakteristischen Ort und seine Natur lenken. Er konzentrierte sich nicht auf die friesischen Städte, sondern nahm die Dörfer und die einzigartige Wattlandschaft im nördlichen Teil der Niederlande ins Visier.
„Ich wollte die friesische Landschaft aus einer menschlichen Perspektive zeigen. Jahrhunderte lang haben wir auf dem Meeresgrund gelebt und Techniken im Kampf mit dem Wasser entwickelt in Form von Poldern, Deichen und Salzwiesen. Die Friesen können stolz darauf sein.“
Das Zusammenspiel der Naturkräfte
De Streken [Der Streifen] ist wirklich ʺslow artʺ. Nimm dir sechs Stunden und betrachte die Gezeiten, wie sie Mark van Vliets sternenförmige Bank erreichen und sich bei Flut wie eine Blume entfalten. Das Werk verbindet Sand, Sonne und Horizont mit den beleuchteten Punkten auf dem Kompass und den Gezeiten und feiert die Naturkräfte.
Es geht Mulder nicht um die Ästhetik, sondern um Projekte, die ein Bewusstsein schaffen für die sich wandelnde Landschaft. Denn die Natur ist nicht statisch. Neben dem immerwährenden Spiel des Windes, des Wassers und des Landes beeinflusst auch der Mensch das Geschehen, mal zum Besseren und mal zum Schlechteren.
„Mönche waren die ersten Deichbauer, sie kämpften mit dem Meer“, erklärt Mulder. „Aber der Deich ist eine Katastrophe, in dessen Folge das Band mit der See zerschnitten wurde. Warum keine sanften Deiche und Salzwiesen schaffen?“ So entstand die Idee, einen 100-Meter-langen (!) Deich mit einer Frau mit vielen Kurven zu bauen.
Dike of a Woman wurde von Nienke Brokke entworfen und vom Bauunternehmen Dijkstra Draisma, Dokkum, umgesetzt. Nach vielerlei Versuchen wurde der Körper aus Kartoffelstärke gebaut, mit Lehm eingeschmiert und im Anschluss Grassamen darauf gesät. Mulder fragt sich, ob „Gras auf ihrem Hinterteil wächst?“.
Wadland (2014) war ein Experiment während des Oerol Festivals, das hoffentlich eine Fortsetzung in Mondriaankwelder erfährt. Der Künstler Bruno Doedens und der Landschaftsarchitekt Machiel Spaan haben gemeinsam mit 200 Student*innen, Fachleuten und Ehrenamtlichen lange Weidenzweige geflochten, wobei sie sich auf die Jahrhunderte alte Tradition beriefen, Unterholz in die Erde zu stecken, um die Verlandung zu fördern. Also eine ganz konventionelle Vorgehensweise und damit nichts Neues.
Die Wahl fiel auf Mondrians Bild Pier and Ocean (1916-17), um den Einfluss des Menschen zu betonen. „Landgewinnung ist hier nicht die Hauptsache. Es wird eine Imbissbude für Vögel werden“, sagt Mulder schmunzelnd. „Alle möglichen Gegenstände bleiben während der Gezeiten stecken. Und der Wind lässt die Weidenzweige sich immer tiefer in den Sand eingraben. In 25 Jahren wird vermutlich nichts Sichtbares davon übrigbleiben. Die Natur gewinnt immer. Das macht dich so demütig als Mensch.“
Sense of Place heute
2018 wurde das erste von Sense of Place realisierte Monumentalwerk Wachten op Hoog Water [Warten auf das Wasser] von Jan Ketelaar in der Nähe von Holwerd aufgestellt. Er schweißte zwei fünf Meter hohe weibliche Figuren zusammen, wobei die dicke und die dünne Figur den reichen und den armen Teil der Welt symbolisieren. Besucher*innen sind eingeladen, sie zu verbinden, indem man beiden die ausgestreckten Hände reicht.
Die Fotoinstallation und der Wanderweg Dobbepaarden [Die Pferde am Tümpel] von 2018 schildert eine spektakuläre Rettungsaktion von 150 Pferden. Sie grasten vor dem Deich, als sie am 1. Oktober 2006 während eines heftigen Sturms durch das Meer in die Enge getrieben wurden und von Pferden mit ihren Reitern angeführt wieder das Land erreichten. Weiterhin gibt es die Tour Bildtstars and Eigenheimers, die mit zehn riesigen Porträts von ansässigen Kartoffelbauern beginnt und Geschichten über den hiesigen Kartoffelanbau erzählt.
Erst kürzlich wurde das Werk De Streken von Marc van Vliet an einem ausgewählten Ort vollendet. Initiiert wurde Terp fan de Takomst [Warft für die Zukunft] von Observatorium Rotterdam, einer 1998 gegründeten Gruppe, die sich als Grenzgängerin zwischen Architektur und Kunst, Stadtplanung und Landschaftsarchitektur versteht. Andere Projekte müssen noch darauf warten, in diesem Naturreservat genehmigt zu werden.
Vom Theater unterm freien Himmel bis zur ortsspezifischen Kunst
Joop Mulder ist gebürtiger Friese. Sein Vater hatte eine kleine Reinigung und war Bürgermeister von Bolsward, wo Mulder mit seiner Schulklasse zum ersten Mal ins Theater ging. Seine Liebe zum Theater war geboren!
Weniger bekannt ist, dass Mulder Künstler werden wollte. Aber der Vater hatte Einwände gegen seinen Wunsch, die Kunsthochschule zu besuchen. Also wurde der Sohn erstmal Inhaber des Cafés de Stoep in Midsland auf Terschelling, von wo aus er seit 1982 Kunstprojekte und Straßentheater organisierte.
„Ich wollte ortsgebundenes Theater an der Küste von Terschelling machen. Aber das ist ein europäisches Naturreservat. Anfangs gab es Widerstand von den Naturschützer*innen. Aber nachdem sich herausstellt hatte, dass sich die Festivalbesucher*innen anständig verhielten, gewann ich ihr Vertrauen. Für die Theatertruppen war es eine große Herausforderung, draußen zu spielen. Es gab bereits ortsspezifisches Theater in leerstehenden Gebäuden, aber ich war der Erste, der ‚Theater in der Landschaft‘ entwickelte.“
Und weiter erklärt er: „Ich bin immer auf der Suche nach der Verbindung von Kunst und Natur gewesen. Nach 36 Jahren sagte ich dem Theater Lebewohl. Aber ich führe noch immer Regie, indem ich bei den Kunstprojekten von Sense of Place der Natur die Hauptrolle gebe.“
Weitere Infomationen: https://www.sense-of-place.eu/de/
Autorin: Anne Berk
Anne Berk ist Kuratorin, Kunstkritikerin und -vermittlerin. Sie lebt und arbeitet in der Nähe von Amsterdam und ist sculpture network Koordinatorin für die Niederlande..
Titelbild: Marc van Vliet, De Streken. Aerial Photo: Catrinus van Veen ANP