Die Steine warten am Ende des Tals
Bemerkenswert. Ein Zentrum für zeitgenössische (Stein-)Bildhauerei mitten in den Bergen. Unter dem Titel „Las piedras saben esperar“ konzipierte Jose Dávila im Sommer 2021 die Eröffnungsausstellung des „Centro Internazionale di Scultura“ im Schweizer Kanton Tessin.
Der Bus fährt pünktlich; siebenmal am Tag, täglich zwischen 8 und 19 Uhr. Fast eineinhalb Stunden braucht das Postauto für die knapp 40 Kilometer von Locarno am schweizerischen Nordufer des Lago Maggiore bis ins oberen Maggiatal. Hier, fast 850 Meter über dem Meer prägen graue Felsen, die sich während der Alpenauffaltung vor etwa 20 Millionen auftürmten, die Kulisse.
Das Bildhauerei- Ausstellungs- und Kunstzentrum liegt am Rande von Peccia, einem Ortsteil der Gemeinde Lavizzara. Geplant von den Tessiner Architekten Bardelli Architetti Associati (Michele und Francesco Bardelli sowie Davide Moranda), konzipiert von Almute Grossmann-Naef und Alex Naef, den Leiter:innen einer dort vor über 30 Jahren gegründeten Bildhauerschule und realisiert mit großzügiger Unterstützung öffentlicher Geldgeber sowie privater Sponsoren und Förderern will das „Centro Internazionale di Scultura“ in dem Dorf mit knapp 200 Einwohner:innen ein neuer Raum der Kommunikation und Begegnung sein; Atelier, Werkplatz, Ausstellungszentrum und Bühne.
In der zentralen Ausstellungshalle, dem Werkplatz und dem Vorplatz einer im nahen Weiler Mogno gelegenen, von dem Tessiner Architekten Mario Botta entworfenen Kirche platziert der studierte Architekt (bei dem mexikanischen Pritzker-Preisträger Luis Barragán) und nach eigenen Angaben autodidaktische Bildhauer Jose Dávila zehn gleichermaßen fragile wie raumgreifende Skulpturen, die mit physikalischen Kräften spielen und dabei gleichzeitig den Bezug suchen, zum weißen Stein von Peccia; eine gewaltige, im Auffaltungsprozess des Zentralalpenmassivs unter Druck geratene und durch die damit entstandene Hitze auskristallisierte Massierung von Kalkformationen. Entstanden ist in diesem Prozess ein grobkörniger, kompakter Marmor, der in verschiedenen Farben von weißlich-elfenbeinfarben über grau, grünlich, bräunlich bis hin zu dunkelgrau-weiß und Texturen von leichten Schlieren bis hin zu deutlicher Bänderung vorkommt.
Joint effort, 2021, Peccia-Marmor, Gneis-Felsen und Spanngurte
Jose Dávilas konzipiert aus natürlichen (helle Marmor und grauer Gneis) sowie industriell gefertigten (Beton, Bronze, Fiberglas und Spanngurten) Ausgangsmaterialien, mit ganz unterschiedlichen Bearbeitungsmethoden (präzise Sägeschnitte, aufwendige Gussverfahren, zufällig gefunden Flusskiesel und präzisen Berechnungen) gefertigte Skulpturen. Die Arbeiten spiegeln dabei einerseits den symbolischen (Kunst-)Wert der verschiedenen Werkstoffe und stehen andererseits für die ausgeklügelte Balance zwischen grenzwertig leichtem Schwebzustand und realistisch schwerer Anziehungskraft. Dávila bedient sich dabei den Formen und Elementen der konstruktiven, konkreten und konzeptuellen Kunst des 20. Jahrhunderts: Punkt und Linie, Fläche und Raum, Statik und Bewegung. Er schafft künstlich arrangierte, paradoxe und immer zerbrechlich wirkende dreidimensionale Systeme, die mit ihrer offensichtlichen Spannung gleichzeitig eine große Ruhe vermitteln und trotzdem immer auf einem eher unsicheren Boden zu stehen scheinen.
Die skulpturalen Installationen beruhen auf einem nur scheinbar harmonischen Ganzen und thematisieren dabei immer auch sichtbare Gegensätze: natürliche Steine oder künstliche Massenware, Schwere oder Leichtigkeit, Stillstand oder Bewegung, Verortung oder Veränderung. Jose Dávilas thematisiert so präzise und aktuell einen, an vielen Stellen der heutigen Gesellschaft, zu beobachtenden Prozess einer immer schneller werdenden Veränderung. Er stellt Fragen nach einer für alle Menschen (über-) lebensnotwendigen Verortung und damit nach der menschlichen Identität. Seine Steine wissen zu warten. Sie bewegen sich nicht. Sie bewegen den Betrachter:innen und sind so eine anschauliche Antwort auf die allgewärtig sichtbare Unsicherheit einer immer unübersichtlich werdenden Gegenwart.
Veröffentlicht im März 2022
Titelbild: There is always a question to be found at the end, 2021, Peccia-Marmor und Findling