Do Not Touch!
Die Aufforderung „Nicht anfassen!“ findet man normalerweise nur in Museen und Galerien. Dass sie sich im Zuge der Corona-Krise auf unser komplettes Leben ausgeweitet hat, ist eine gewaltige Herausforderung für uns alle. Zeit, darüber nachzudenken, welchen Stellenwert Berührungen haben – für uns und für die Kunst.
Seien wir mal ehrlich: Der Satz „Nicht anfassen!“ war für uns schon im Kindesalter eher eine Herausforderung als eine Warnung. Und auch Jahre später ertappt sich die ein oder andere Galeriebesucherin, der ein oder andere Museumsgänger sicher dabei, dem Drang nicht widerstehen zu können, ein Kunstwerk zu berühren. Das ist auch ganz verständlich: Wir Menschen sind Wesen, die Berührungen brauchen, ja ohne sie nicht existieren können. Genau deshalb fällt uns die aktuelle Situation, in der es am sozialsten ist, sich eben nicht gegenseitig zu berühren, so schwer. Für unsere Mitmenschen gilt „Do Not Touch!“ erst einmal weiterhin, aber vielleicht ist es an der Zeit, zu hinterfragen, was es mit dem Verbot in der Kunst auf sich hat.
Marina Bauer, "Delving", 2019, Objekt mit Schubladen,
Kristall, Pressholz, verschiednen Materialien
und Objekten, 125x208x105cm
und Objekten, 125x208x105cm
Dabei hat gerade die Skulptur ein ganz besonderes Verhältnis zur Berührung. Nicht nur der Schöpfungsakt ist ausgesprochen physisch, nicht selten mit Schweiß und Tränen verbunden, sondern auch das Ergebnis. Wer könnte widerstehen, über die Schnauzen der Münchner Löwen vor der Residenz zu reiben? (Denn das bringt ja der Legende nach Glück!) Die Vielfalt der Materialien ist zu einem großen Teil für die Faszination verantwortlich, die Skulpturen auf uns ausüben. Wie wird es sich wohl anfühlen? Glatt oder rau, kühl oder warm, hart oder nachgiebig? Die Berührung erschließt uns einen anderen Wahrnehmungsraum, denn manchmal täuscht das Auge – aber wenn wir etwas berühren können, können wir uns unserer eigenen Sinne versichern.
Natürlich gibt es Gründe, die dagegen sprechen, Kunst zu berühren: Würden 25.000 Louvre-Besucher*innen am Tag die Venus von Milo anfassen, wäre sicher bald noch weniger von ihr übrig. Je nach Material können Kunstwerke extrem empfindlich auf Berührung reagieren. Kontrovers wurden deshalb Aktionen wie die Initiative Touching the Art aufgenommen, die unter anderem auf Instagram zu einer Befreiung und Demokratisierung von Kunst aufrief. Vom Grundsatz her eine schöne Idee, aber mit unerfreulichen Folgen: Tausende von Museumsbesucher*innen fotografierten sich beim unerlaubten Berühren von Kunstwerken und posteten die Bilder in den sozialen Medien. Dass es bei solchen Aktionen nicht unbedingt um ein Erleben und Verstehen geht, liegt auf der Hand – der Reiz des Verbotenen war sicher der wahre Antrieb.
Dabei gibt es ja Kunst, die man berühren darf, ja sogar berühren soll! Manche Werke funktionieren ohne die Interaktion mit den Betrachter*innen (oder eben: Teilnehmer*innen!) gar nicht. Unter dem Schirm von sculpture network versammeln sich einige Künstlerinnen und Künstler, die auf diese Art und Weise arbeiten: Werke wie Puzzled von Manuela Granziol erwachen erst zum Leben, wenn sie berührt werden.
Sie erreichen erst dann ihr volles Potenzial, wenn unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Ideen und Ansprüchen damit interagieren. So wird die Persönlichkeit der Betrachtenden Teil des Kunstwerks. Besonderen Wert auf diesen direkten Kontakt mit einem Werk legt unsere Koordinatorin Marina Bauer. In ihren Arbeiten geht es immer und immer wieder um die Berührung, das Einswerden mit der Kunst. Von Abstand und Unveränderlichkeit kann in vielen ihrer Kunstwerke nicht die Rede sein. Skulptur existiert nicht einfach, sie geschieht! Das Wie dieses Prozesses wird maßgeblich von den Personen bestimmt, die ihn anstoßen und mit einem Werk wie Delving in Kontakt treten.
Natürlich ist die physische Interaktion nicht die einzige Möglichkeit, das Thema Berührung in der Kunst zu verhandeln – und auch nicht die einzige Art, mit einem Kunstwerk in Kontakt zu treten. Berührung lässt sich visuell simulieren, wie in den Werken des sculpture-network-Mitglieds Mieke van Grinsven. Oder sie lässt sich abstrakt darstellen. Es gibt so viele Möglichkeiten, Berührung künstlerisch zu reflektieren und damit die Betrachter*innen auf eine gewisse Art zu berühren.
Mieke van Grinsven, "Compressed Touch"
Und dann gibt es noch die Art Kunst, die sich aus ihrer Natur heraus der Berührung entzieht. Lichtinstallationen zum Beispiel von der Art, wie Yayoi Kusama sie zaubern kann. (Unsere Leserinnen und Leser haben sie vor einer Weile zu ihrer Lieblingskünstlerin gekürt. Wer mehr darüber lesen möchte, dem sei dieser Artikel ans Herz gelegt.) Ihre Mirror Rooms lassen sich nicht greifen, sie lassen sich nur erleben. Als Betrachter*in taucht man ein in die Lichter und Spiegelungen und wird so eins mit dem Kunstwerk – ganz ohne Berührung. In Zeiten von Corona leidet vor allem diese Art Kunst, denn was spiegelt sich in einem Mirror Room, wenn das Licht aus ist und die Besucher*innen ausbleiben? Die Galerie The Broad hat versucht, Abhilfe zu schaffen: In ihrem interaktiven Online-Angebot erwacht Yayoi Kusamas Infinity Mirrored Room mit Musik lokaler Musikschaffender zum Leben. So viele Besucher*innen zur gleichen Zeit hatte die Installation sicher nie zuvor, denn online kann sich jeder zu jeder Zeit und an jedem Ort einschalten.
Egal, ob wir ein Kunstwerk berühren können oder nicht, es berührt im idealen Falle uns. Das persönliche Erleben spielt dabei sicher eine ganz zentrale Rolle, aber nicht immer gehört dazu auch die physische Berührung. Und gerade deshalb sollten wir in Zeiten wie diesen dankbar sein für die digitalen Möglichkeiten unseres Zeitalters: Das Internet ersetzt die direkte Berührung nicht, aber es ermöglicht eine emotionale Verbundenheit mit Kunstwerken und unseren Mitmenschen. So gibt es am Ende sowohl bei der Kunst als auch bei den Menschen immer eine Berührung, die auch ohne physischen Kontakt zustande kommt: die Berührung der Seele.
Titelbild: Marina Bauer, "Place", 2017, Gibskarton-konstruktion, Gummibänder, 295 x 250 x 250 cm