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Jonathan Michie – Akribische Konstruktionen 

Als Jonathan Michie sich vor drei Jahren für einen Studiengang entscheiden musste, tendierte er eigentlich zu Animation. Doch ihm wurde bewusst, dass der Kurs mit seinem immensen Tempo nicht zu ihm passte. Er entwickelt seine Idee gern langsam und sorgfältig.

Aus einer Laune heraus besuchte Jonathan Michie einen Wochenendkurs im National Glass Centre in Sunderland, England. Dort konstruierte er eine einfache Buntglasscheibe nach dem traditionellen Arbeitsprozess: Erstellen eines Entwurfs, Zuschneiden des Glases, Zuschneiden der Bleistege, Zusammenfügen der Einzelteile und Löten der Verbindungen. Jeder dieser Schritte musste sorgfältig und präzise durchgeführt werden. Es war dieser methodische Ansatz, der Michie von einem Studium in Sunderland überzeugte und zum Glas führte. 
In seinem ersten Jahr belegte er das Modul Digitales Handwerk. Zunächst sollte er ein beliebiges Objekt digital nachbilden. Er entschied sich für eine Kanone aus Mahagoni und Messing, die er in einem Antiquitätengeschäft als Geschenk für seinen Vater gekauft hatte. Mit Geduld zerlegte er die Feuerwaffe Stück für Stück. Ihm wurde bewusst, dass man über eine genaue Untersuchung von Einzelteilen und die Analyse ihrer jeweiligen Funktion Dinge digital neu erstellen konnte. Seitdem wendet er dieses Wissen auf seine eigene Kunst an. Für ihn stellt die Zusammenführung von Kunst, Materialwissenschaft und Computerprogrammierung keinen Widerspruch dar. Michie ist Teil einer Generation, für die diese Welten ohnehin zur Alltagskultur gehören. Er versteht sich als ein Produkt der Zeit, in der er lebt. Michie integriert moderne Technologien nicht zum Selbstzweck in seinen Schaffensprozess. Ganz rational nutzt er lediglich alle verfügbaren Werkzeuge, die für die Realisierung seiner Entwürfe relevant sind. Dazu können auch digitale Werkzeuge zählen, eben alles, was in der heutigen Welt technisch möglich ist. 
Michie unterteilt seine Arbeitsweise in zwei separate Stadien. Zunächst entwickelt er als Designer eine Idee und versucht sich vorzustellen, wie man sie am besten vermittelt. Er erlaubt sich nie, über die Konstruktionsmethode bereits in der Entwurfsphase nachzudenken, denn dies könnte sein Design einschränken. Dann würde er auf Basis von Erprobtem entwerfen, sich nie weiterentwickeln und verbessern. Nachfolgend stellt Michie sich bewusst der Herausforderung, die er sich im Designprozess gesetzt hat und erarbeitet zielstrebig die nötigen Schritte für die Realisierung. Dabei ist er kompromisslos: Nie würde er den Entwurf ändern, etwa um ihn einfacher zu konstruieren oder billiger umzusetzen. Die Kunst steht für ihn an erster Stelle. 

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Jonathan Michie, Exit, Pursued by a Bear (2016), 120 x 210 x 90 cm. Foto: Dave Williams

 

Seine meist großformatigen Arbeiten sind aus unzähligen Glasscheiben aufgebaut, deren unterschiedliche Umrisse er mit dem Wasserstrahl nach digital erstellten Mustern zuschneidet. 2016 setzte er für die Konstruktion der Skulptur Exit, Pursued by a Bear noch recht rudimentäre Mittel ein. Um die Struktur zusammenzuhalten verwendete Michie damals Holzleim und Klebeband; mit Kabelbinder hatte er die Glaselemente in mühevoller Kleinarbeit an der Struktur befestigt. Am Ende gefiel ihm nicht wie Klebeband und Kabelbinder von der Silhouette ablenkten. 
Für seine Bachelorarbeit The Hunt setzte er auf ein computergestütztes Verfahren zur Be- hebung dieses Missstands. Die Skulptur ist als ein Rahmen aus Stahlstäben aufgebaut, die wiederum durch Kunststoffelemente zusammengefügt sind. Jedes dieser Verbindungsstücke muss in einem individuellen Winkel mehrere Stahlstäbe aufnehmen. Der Entwicklungsprozess durchlief eine Reihe von Testläufen, die ihn nach eigener Aussage ziemlich frustrierten. Jedes Mal, wenn er eine Änderung an der Befestigung vornahm, musste er die gleiche Änderung auf 350 Verbindungsstücke übertragen. Um das Verfahren zu beschleunigen berechnete Michie deren Oberflächendimensionen mit der Modellierungssoftware Rhino und lernte Grasshopper, dessen algorithmisches Plug-In. Aus dem Stützmaterial Polyvinylalkohol druckte er anschließend die einzelnen Glieder mit komplexen Kanten und Hinterschnitten im 3D-Verfahren. Gedruckte kleine Klemmen, die in die Fugen einrasten, fixierten die Glasstücke ohne Klebstoff. 

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Jonathan Michie, The Hunt (2018), 110 x 250 x 140 cm. Foto: David James Wood

 

Das Gestalten mit Algorithmen, bei dem man eigentlich einen Prozess entwirft und nicht ein Objekt, war für Michie zunächst völlig neu. Er brach die Schritte auf, die mit der Erstellung der Verbindungsstücke verbunden waren und fasste diese dann zu einem Algorithmus zusammen. Damit dieser Algorithmus funktioniert musste jeder Schritt erfolgreich auf die einzelnen Glieder anwendbar sein. Er benötigte einige Monate allein für das Schreiben der Definition, mit der sich alle Verbindungsstücke für den Hirsch erstellen ließen. Sie sollten das Design ergänzen und das Glas in den Fokus setzen, sowohl die Struktur zusammenhalten als auch das Glas stützen. Die Skulptur musste langlebig sein aber auch zerlegbar, falls nötig. 
Mit The Hunt gewann Jonathan Michie den zweiten Platz beim diesjährigen CGS Glass Prize. Die Jury hat damit eine Arbeit honoriert, die als herausragendes Beispiel die Vorteile zeitgenössischer Technologien für Glasschaffende illustriert. Der Rückgriff auf computergestützte Anwendungen ist kein Angriff auf das immaterielle Kulturerbe Glasmachen, sondern eine spannende Erweiterung. Das Glashandwerk bekommt neue Impulse, wenn es sich nicht ausschließlich über den Einsatz traditioneller Techniken definiert, die bereits vor der Industriellen Revolution praktiziert wurden. Gerade die digitalen Tools setzen Glaskünstler heute in die Lage, ihre eigenen Arbeiten ohne jegliche industrielle Hilfe zu entwerfen, herzustellen, zu bewerben und in Serie zu produzieren. 

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Das Gerüst für den Hirschkopf. Foto: J. Michie

 

Derzeit arbeitet Michie an einem Kunstwerk über Ikarus. Er möchte den Moment festhalten, als Ikarus sich darauf vorbereitet, von einem Felsvorsprung ins Freie zu springen, ohne zu wissen, ob er in seinen Tod fallen oder in die Freiheit fliegen wird. In diesem zwiespältigen Gefühl der Angst und Hoffnung findet sich der junge Brite wieder. Er hat gerade seinen Universitätsabschluss gemacht und sich mit einer Reihe von Werkzeugen ausgestattet, von denen er glaubt, dass sie ihm in seiner Zukunft helfen können. Michies Arbeiten sind im Ergebnis eine Fusion intellektueller und maschinengesteuerter Prozesse, der natürlichen und der digitalen Welt. Mit seiner Kunst fordert er unsere Erwartungen an strukturelle Form und ästhetische Erzählung im Kunsthandwerk heraus, und an das Prinzip des Unikats. Das ist eine enorme Leistung für einen Künstler, der erst ganz am Anfang seiner Karriere steht.

Dieser Text beruht auf dem schriftlichen Aus- tausch mit Jonathan Michie im
September 2018.

 

Autorin: Verena Wasmuth

Expertin für Kunst und Design aus Glas
Der Artikel wurde im Rahmen unserer Zusammenarbeit mit GLASHAUS – Internationales Magazin für Studioglas 04/18 veröffentlicht.

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