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Sculpting Emotions

Kann eine Skulptur uns zu Tränen rühren? Kann sie uns in Staunen versetzen oder uns sogar zum Lachen bringen? Die knappe Antwort auf all diese Fragen lautet unzweifelhaft „Ja“. Es ist vielleicht die mächtigste Eigenschaft, über die Kunst verfügt: Menschen auf einer Ebene zu berühren, die über rationale Gedanken und Vernunft hinausgeht und bis in unser tiefstes Inneres reicht.

Aus kunsthistorischer Sicht lässt sich sogar behaupten, dass das Erwecken von Gefühlen durch Kunst einen wesentlichen Bestandteil der europäischen christlichen Tradition ausmacht. In diesem einführenden Text werde ich daher keinen Überblick über zeitgenössische bildhauerische Werke geben, die bei uns Emotionen hervorrufen, sondern einige Beispiele aufführen, die bis zu den Wurzeln der Darstellung von Gefühlen in der westlichen Kunst zurückreichen.

Eine Ikone des Leidens

Das Sinnbild in der Tradition der westlichen Kunst schlechthin ist Christus am Kreuz. Das Gero Kruzifix aus dem Jahr 976, das im Kölner Dom in Deutschland zu sehen ist, ist eines der frühesten Beispiele für ein Christusbild nördlich der Alpen, bei dem das Haupt Christi nach unten gesenkt und sein Körper zusammengesackt dargestellt ist. Diese monumentale Holzskulptur zeigt das Leiden Christi und sollte bei den Besucherinnen und Besuchern der Kirche Gefühle wie Trauer, Wut oder auch Angst hervorrufen. Anstatt nur von der Passion Christi zu hören, machte diese Skulptur das Leiden für die Gläubigen sichtbar und fühlbar und bereicherte so ihre religiöse Erfahrung. Es versteht sich von selbst, dass dieses Bild in der westlichen Kultur immer und immer wieder kopiert wurde. Auch wenn unsere Welt in den letzten Jahrhunderten zunehmend säkularer geworden ist, sind Bilder von Leid, die Emotionen hervorrufen, zu einem festen Bestandteil unserer Kultur geworden. Man muss nur eine Zeitung aufschlagen, den Fernseher einschalten oder im Internet surfen, um mit ihnen konfrontiert zu werden.

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Gero Kruzifix, um 975 -1000. Holz, Höhe 188 cm, Kölner Dom

Wehklage der Mutter

Ein weiteres ikonisches Bild aus der bildlichen christlichen Tradition ist die Pietà. Die Ursprünge der Darstellung der Gottesmutter Maria, die den sterblichen Leib Christi auf dem Schoß hält, entwickelten sich in Deutschland im frühen 14. Jahrhundert. Ein Beispiel hierfür findet sich in der hölzernen Röttgener Pietà. Diese Art der Skulptur wurde für die private Andacht geschaffen, bei der die persönliche Beziehung zu Gott im Mittelpunkt stand. Im Deutschen bezeichnet man diese auch als Andachtsbild. Bei der Röttgener Pietà sind die Wunden Christi stark überzeichnet dargestellt, und das Gesicht Mariens ist zu einer Grimasse verzerrt, in der sich der Schmerz über den Verlust ihres Sohnes widerspiegelt.

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Roettgen Pietà, Anfang 14. Jahrhundert. Holz, Höhe 87,5 cm, Rheinisches Landesmuseum Bonn

Das berühmteste Beispiel einer Pietà (1498 – 1499) ist sicherlich die große Marmorskulptur Michelangelos im Petersdom im Vatikan, die ein weitaus friedvolleres Bild zeigt. Hier sehen wir Maria als eine schöne junge Frau, die um ihren erwachsenen Sohn trauert, dessen lebloser Körper auf ihrem Schoß liegt. Sie hält ihn ähnlich einem Kind, das in den Armen gewiegt wird. Bei dieser Darstellung ist der Betrachtende nicht aufgefordert, sich in das Leiden Christi hineinzuversetzen, vielmehr soll die trauernde Mutter bewundert werden.

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Michelangelo, Pietà, um 1500. Marmor, Höhe 173,9 cm. Petersdom, Vatikan

Im 20. Jahrhundert verwendete Käthe Kollwitz diese Darstellung, um zum Todestag ihres im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohnes Peter (1937 – 1939) ihre eigene Pietà zu schaffen. Die kleine Bronzeskulptur zeigt uns eine ältere Frau, die den toten Körper ihres Kindes zwischen ihren Knien hält und an ihren Körper drückt. In diesem Werk übersetzt Kollwitz ein jahrhundertealtes religiöses Bild in ihre persönliche, zeitgenössische Trauer, die sie seit Jahrzehnten in sich trägt, und macht sie für den Betrachter spürbar.

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Käthe Kollwitz, Mutter mit totem Sohn, 1937 - 1939. Bronze, Käthe Kollwitz Museum Köln

Den Toten zum Gedenken

Es gibt noch eine weitere Skulptur, die die Trauer im Mittelalter verkörpert. Die Pleurants, oder Weinenden, sind kleine Skulpturengruppen anonymer edler Männer und Frauen, die um die Gräber von Adeligen aufgestellt wurden. Diese Figuren wurden im Spätmittelalter in Westeuropa zu einer beliebten Mode und sind deshalb interessant, weil sie weltliche Figuren darstellen, die Gefühle zeigen. Die 24 Pleurants, die für das Grab von Isabella von Bourbon angefertigt wurden, haben beispielsweise allesamt ein unverwechselbares Aussehen und eine typische Körperhaltung, anhand derer man sie als Geistliche und Adelige ausmachen kann. Die Skulpturen wurden von Maria von Burgund für ihre Mutter in Auftrag gegeben und stellen drei Generationen an Vorfahren dar. Die Trauer wird individualisiert und in den privaten Bereich verlagert, sorgt aber auch dafür, dass um das Grab einer wichtigen Person immer eine Schar von Trauernden versammelt ist. Dieses Konzept findet sich auch heute noch in den Grabdenkmälern unserer Friedhöfe. Die Skulpturen heben das Grab hervor und verleihen ihm Individualität, gleichzeitig halten sie Wache über den Toten.

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Jan Borman und Renier Thienen, Pleurants (von der Grabstätte von Isabella von Bourbon), 1475 -1476. Bronze, Rijksmuseum Amsterdam

Schauen wir uns jedoch zeitgenössische Orte der kollektiven Trauer an, wie zum Beispiel das Holocaust Name Monument in Amsterdam von Daniel Libeskind aus dem Jahr 2021, wird der kollektiven Erinnerung nicht durch das Darstellen von Emotionen Ausdruck verliehen, sondern durch die Visualisierung der ungeheuren Anzahl an Menschen, die den Tod fanden. Diese Denkmäler sind oft sehr minimalistisch in ihrer Gestaltung und überlassen es den Einzelnen, für sich selbst zu entscheiden, welche Empfindungen und Gefühle bei der Betrachtung ausgelöst werden.

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Daniel Liebeskind, Nationaal Holocaust Namenmonument, 2021. Ziegel, Spiegel und Edelstahl, Amsterdam

Gefühle auf den Kopf stellen

Um mit einer positiven Anmerkung abzuschließen: Es gibt auch viele Skulpturen, die positive Gefühle hervorrufen. Im kommenden Jahr werden wir uns eingehender mit all den vielfältigen Möglichkeiten befassen, Gefühle durch Skulpturen zu erwecken. Einige Skulpturen zeigen vielleicht sogar eine Emotion und rufen eine völlig andere hervor. Ein amüsantes Beispiel hierfür findet sich im Vigelandpark in Oslo, Norwegen. Dieser Park zeigt 212 Stein- und Bronzeskulpturen, die Gustav Vigeland zwischen 1907 und 1942 geschaffen hat. Sie zeigt die Menschheit in all ihrer Nacktheit, vom Baby bis ins hohe Alter, in einer Vielfalt von Kompositionen und menschlichen Emotionen. Die wohl bekannteste Skulptur ist jedoch eine eher kleine Bronzestatue eines Jungen von vielleicht eineinhalb Jahren. Dieser kleine Kerl ist wütend. Wir erleben, wie er aus vollem Halse schreit, die Augen fest zusammengekniffen. Wir sehen förmlich, wie ihm die Tränen über die Wangen strömen. Er stampft sogar mit seinem kleinen Fuß auf. Trotzdem können wir nicht anders, als ihn anzulächeln, und müssen sogar ein wenig lachen. Dieses Gefühl der Wut ist bei Kindern so typisch, wenn sie noch nicht die Fähigkeit besitzen, sich verbal mitzuteilen. Vigeland hat diese unverfälschte Emotion auf wunderbare Weise eingefangen.

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Gustav Vigeland, Sinnataggen, 1928. Bronze, Vigelandpark, Oslo

Sietske Roorda hat diesen Text auf Englisch verfasst.

Über den Autor/ die Autorin

Sietske Roorda

Sietske Roorda (Amsterdam, NL) ist eine niederländische Kunstkritikerin, Autorin und Podcasterin, die sich auf zeitgenössische Kunst spezialisiert hat und ein besonderes Interesse an politisch engagierter und feministischer Kunst hat.

Übersetzung

Sybille Hayek

Sybille Hayek ist Lektorin und Übersetzerin. Seit 2022 unterstützt sie unser Team ehrenamtlich mit ihrem geschulten Blick fürs Detail und einer großen Liebe zur Sprache.

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