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Jeder sieht, was er sieht!

Marmor, Stein und Sex. Ist Penis-Content Kunst? Oder geht es um Selbstdarstellung? Ein Phallus sei, so Ilona Vogel, die Besitzerin einer 1,80 Meter hohen, geschliffenen und glattpolierten, zwei Tonnen schweren Penis-Skulptur, schon seit Beginn der Menschheitsgeschichte ein positiv konnotiertes Symbol für Fruchtbarkeit und Kraft; ein archetypisches Symbol. Mag sein.

Photo: Christof Plass, Frankenpost
Foto: Christof Plass, Frankenpost
Die Skulptur aus weißem Wunsiedler Marmor steht leicht erhöht, mitten in einem kleinen Rasenplateau und auf einem harten Betonfundament in Köditz. In den Schlagzeilen findet man diesen beschaulichen Ort im Nordosten von Bayern selten. Im Juli 2024 war es wieder so weit: Der steinerne Phallus aus Wunsiedler Marmor in Ilona Vogels Vorgarten, einer in Köditz ansässigen Fachärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten, sorgt dort für Gesprächsstoff.
Vor einigen Jahren waren es gebügelte Oberhemden, ein VW-Golf oder ein Trabant 601: ganz aus Stein gemeißelt – wahlweise aus Granit, Marmor oder Sandstein; immer groß, immer naturalistisch – nicht immer schön. Jetzt ist es ein männlicher Penis, pardon Phallus – das hört die Besitzerin lieber.

Penis-Content gibt es heute genug; on- und offline: Von den Dickpics in den sogenannten sozialen Medien bis zu Till Lindemanns imposanter Penis-Kanone. In Frau Vogels Garten geht es allerdings nicht um Sex oder Selbstdarstellung. Es geht um Kunst.

Das männliche Geschlechtsteil ist, ganz anders als die weibliche Brust, nicht oft im Fokus der Kunstwelt. Es gibt Ausnahmen: Michelangelo und sein berühmter David – zum Beispiel. Der steinerne David aus Carrara-Marmor ist bis heute das Sinnbild des perfekten (männlichen) Körpers. Was auffällt, ist der Penis des Helden; klein, schlaff und unbedeutend. Dabei, so weiß man heute, hat sich Davids Penis nicht aus Angst vor Goliath klein gemacht. In den Zeiten Michelangelos war das Schönheitsideal ein anderes. Der ideale Mann war rational, intellektuell und kontrolliert. Ein kleiner Penis hieß nicht, dass er keinen (guten!) Sex hatte, sondern dass einem kleinen Penis Coolness innewohnt. Ein kleiner Penis bedeutete Bescheidenheit, Askese und trotzdem männliche Kraft. Es kommt eben nicht nur auf die Größe an. Natürlich gibt es daneben ausschweifende Darstellungen, auf denen haufenweise sexuelle Exzesse und Festgelage, wilde Satire mit überdimensional großen Penissen zu sehen sind. Letztere genießen allerdings – damals wie heute – einen eher miesen Ruf.
Im Netz und bei der Kanone auf der Rammstein-Bühne geht es darum, zu zeigen, was man hat oder wenigstens glaubt zu haben. Es geht um die Logik des Fetischs und die „ostentatio genitalium“, das demonstrative Zeigen des Geschlechtsteils, wie es die Kunstgeschichte nennt.

Das „Ding“ in Köditz ist dagegen ein Werk in der Tradition des „Nouveau Réalism“, einer losen Künstlergruppe, die um 1960 in Frankreich entstand. Die „Neuen Realisten“ um Jean Tinguely, Yves Klein, Daniel Spoerri und Christo beklagten in ihrem Manifest den Ausverkauf und die Verhärtung des gängigen (künstlerischen) Vokabulars und der bisherigen Stile. Ihnen bleibt, so heißt es dort, nur noch „das hinreißende Abenteuer des wirklichen Sehens“. Sie interessierten sich nicht mehr für die Abbildung der Realität, sondern für die konkreten Dinge selbst, ihre Materialität und die Möglichkeit ihrer Metamorphose. Ganz in der Tradition eines Marcel Duchamps lösten sie Objekte aus ihrer angestammten Umgebung und brachten sie in einen neuen Zusammenhang. Ihr erklärtes Ziel: Die Lücke zwischen Kunst und Leben zu schließen.

So ist es auch im Garten von Frau Vogel: Der Schöpfer des Penis von Köditz ist der oberfränkische Bildhauer Wolfgang Stefan. Er studierte bei Wilhelm Uhlig in Nürnberg, ist am Kompetenzzentrum für das Steinmetz- und Steinbildhauerhandwerk in Wunsiedel tätig und arbeitet als Designer für verschiedene Firmen im Bereich Glas und Porzellan. Stefan nähert sich dem besten Stück des Mannes mit einer gewissen Raffinesse, ohne falsche Scham, ganz wie die Natur es schuf und es die meisten (Männer) sehen wollen. Die Skulptur ist aus Wunsiedler Marmor, einem Stein aus Oberfranken, der 500 Jahre lang um Wunsiedel herum in verschiedenen Steinbrüchen und unterschiedlichen Farbvarianten abgebaut wurde. Neben weißen, von grauen bis schwarzen Adern durchzogenen Varianten zeigen manche Vorkommen auch eine braune, grüne, orange oder gelbliche Färbung. Überall im Fichtelgebirge sind Skulpturen, Grabsteine und andere Denkmäler aus diesem Stein zu finden. Wunsiedel besaß im Mittelalter eine Stadtmauer aus Marmor. Sie soll manchen Angreifer so irritiert haben, dass er von dem Vorhaben einer Eroberung abließ; auch eine schöne Geschichte.
Ilona Vogel, die Besitzerin des steinernen Phallus von Köditz, sieht in der Skulptur in ihrem Garten nichts Anrüchiges. Im Gegenteil: Der Phallus aus Marmor trage zur Kommunikation in dem kleinen Ort bei. Im Mittelpunkt der Zaungäste stehe meist die Frage, wer denn Modell gestanden hätte für diesen Giganten? So verbinden sich Kunst und Leben. Vielleicht trägt der Phallus in Köditz dazu bei, das Selbstwertgefühl bei denen zu stärken, die sich in Bezug auf ihren eigenen Penis unsicher fühlen. Bleibt die Frage, wer dann noch Dickpics posten soll?

Über den Autor/ die Autorin

Willy Hafner

Willy Hafner ist Münchner Kunsthistoriker und organisierte 2019 zusammen mit Eva Wolf und Angelika Hein das erste und zweite Sculpture Network Lab. Seitdem berichtet er für uns von spannenden Skulptur-Projekten in Deutschland und darüber hinaus. Er ist Mitglied des Patronatskomitees des Centro Internazionale di Scultura und hilft, die kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung des Projektes zu unterstreichen.

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