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Das Leben fast berühren

Der Baum des Lebens, unsere allererste Lebensader, oder auch anders gesagt: die Plazenta. Seltsamerweise ist dieses Organ recht wenig erforscht, obwohl es für die Entwicklung des menschlichen Lebens eine entscheidende Rolle spielt. Die schweizer Künstlerin Farah Widmer hat dieses überaus einflussreiche Organ kürzlich in den Mittelpunkt ihres Projektes Moederkoek (Mutterkuchen, 2024) gestellt. Ihre Plazentas aus Keramik haben die unterschiedlichsten Formen und Größen, mit erstaunlich farbenfrohen Glasuren, die von leuchtendem Rot bis zu tiefem Violett reichen und so auf die Verschiedenartigkeit von Plazentas, kleinen und großen, dicken und dünnen, verweisen.

 

Farah Widmer, Moederkoek, 2024
Farah Widmer, Moederkoek, 2024. Foto: Giovanni Salice

Auf dieses mysteriöse Organ verweist auch die jüngste Skulptur der niederländischen Künstlerin Femmy Otten. Ihre Arbeit Mother (Mutter, 2024) steht in der Mitte eines Brunnens in Oostende (Belgien). Es ist die Statue einer anmutigen schwangeren Frau, zu deren Füßen sich ein eigenartiges Geflecht aus Körperteilen befindet. Dieser Klumpen ist das Markenzeichen der Künstlerin, in diesem speziellen Kontext spielt er jedoch auf die Entwicklung der entstehenden Körperteile im Inneren ihres Bauches an. Beide Werke spielen mit der Wechselbeziehung der Plazenta zwischen Berührung und Distanz, zwischen dem, was enthüllt wird und dem, was im Verborgenen bleibt.

Femmy Otten, Mother, Beaufort 24, Oostende,  ©annsophiedeldycke.by_westtoer ©Westtour
Femmy Otten, Mother, Beaufort 24, Oostende, ©annsophiedeldycke.by_westtoer ©Westtour

Femmy Otten, Mother, Beaufort 24, Oostende,  ©annsophiedeldycke.by_westtoer ©Westtour
Femmy Otten, Mother, Beaufort 24, Oostende, ©annsophiedeldycke.by_westtoer ©Westtour

Die Plazenta wird oft als ein Nebenprodukt betrachtet und tatsächlich auch als Nachgeburt bezeichnet. In letzter Zeit ist es in Mode gekommen, die Plazenta im Garten zu vergraben und einen Baum darauf zu pflanzen, da man glaubt, dass die Plazenta den Boden fruchtbar macht. Man kann auch Kapseln daraus herstellen, die die Mutter während der Stillzeit einnimmt, in der Annahme, dass sie auf diese Weise mit der nötigen Menge an Nährstoffen versorgt wird. Im westlichen Kulturkreis ist es jedoch allgemein üblich, die Plazenta direkt in die Mülltonne zu werfen.

 

Eine Schatztruhe voller weggeworfener Kostbarkeiten

Mit ihren Skulpturen hat Widmer ihre Plazentas in eine Schatztruhe angefüllt mit Kostbarkeiten verwandelt. Einige Arbeiten zeigen das inhärente Muster der Adern, die von der Nabelschnur ausgehen und sich über eine große ovale Form erstrecken; weitere zeigen die andere Seite der Plazenta mit ihren fleischigen Schwämmen, die sich an die Gebärmutter klammern. Allein schon ihr Anblick weckt das Interesse daran, wie der Körper ein so komplexes Organ hervorbringen kann, das seinerseits wiederum ein menschliches Wesen entstehen lässt. Man kann nicht anders, als diese glatten, kalten Objekte zu berühren, die dem eigentlichen warmen, fleischigen Organ, das nach der Geburt herausgleitet, ähneln, sich aber doch so anders anfühlen.

Farah Widmer, Moederkoek, 2024
Farah Widmer, Moederkoek, 2024. Foto: Giovanni Salice

Farah Widmer, Moederkoek, 2024
Farah Widmer, Moederkoek, 2024. Foto: Giovanni Salice

Farah Widmer, Moederkoek, 2024
Farah Widmer, Moederkoek, 2024. Foto: Giovanni Salice

Indem Widmer die Plazenta zum Kunstobjekt erhebt, unterstreicht sie die Bedeutung, die dieses Organ in unserer Schöpfung spielt. Die Plazenta ist bereits unmittelbar nach der Empfängnis ein Teil des Lebens; wenn sich die Zellen teilen, entwickelt sich die eine Hälfte zum Embryo und die andere Hälfte zur Plazenta. Später in der Schwangerschaft sind die Plazenta und die Nabelschnur die ersten Dinge, die der Fötus berührt und mit denen er spielt.

Über dieses temporäre Organ, das zur Entwicklung und Reifung der Organe des Fötus, wie Herz, Darm und Lunge, beiträgt, ist jedoch wenig bekannt. Dies mag der Grund dafür sein, dass Widmer uns die Plazenta so zeigt, wie sie von den meisten Menschen wahrgenommen wird, nachdem sie den Körper der Mutter verlassen hat. Sie ist zu einem leblosen Objekt geworden. Es gibt sogar einige Arbeiten, die die Plazenta aus Keramik in einem Gefäß zeigen, ein Verweis darauf, dass wir in unserer Gesellschaft dazu neigen, Gegenstände wegzuwerfen, die unserer Meinung nach ihren Zweck erfüllt haben. Die Nabelschnur hängt jedoch noch heraus wie eine Schlange, die den Betrachter dazu verleitet, genauer hinzusehen und vielleicht sogar die Hand hineinzuhalten.

Eine ferne Göttin der Schöpfung

Die Mother (Mutter) von Otten hält uns auf Distanz, auch wenn der erste natürliche Instinkt des Publikums darin besteht, den großen runden, weißen Marmorbauch der schwangeren Frau zu streicheln, der in der Mitte eines Brunnens in der belgischen Küstenstadt Oostende zu finden ist. Das Kunstwerk bezieht sich auf klassische Marmorskulpturen nackter Frauen, doch mit einem Hauch von Schwangerschaft, da in der Kunstgeschichte nur wenige Darstellungen schwangerer Frauen zu finden sind.

Femmy Otten, Mother, Beaufort 24, Oostende,  ©annsophiedeldycke.by_westtoer ©Westtour
Femmy Otten, Mother, Beaufort 24, Oostende, ©annsophiedeldycke.by_westtoer ©Westtour

Femmy Otten, Mother, Beaufort 24, Oostende,  ©annsophiedeldycke.by_westtoer ©Westtour
Femmy Otten, Mother, Beaufort 24, Oostende, ©annsophiedeldycke.by_westtoer ©Westtour

Diese nackten Skulpturen werden oft von Männern angefertigt, sind sexuell explizit und beziehen sich auf die griechische Göttin der Schönheit und Liebe. Otten versucht, ihre Skulptur von der erotischen Konnotation dieser Figur zu trennen, der Bezug zu Aphrodite bleibt jedoch bestehen, da sie auch die Göttin der Fruchtbarkeit verkörpert. Otten stellt also eine schwangere Frau wie eine Göttin als ein unantastbares Wesen auf einen Sockel, aber sie entblößt die Schwangere auch, zeigt sie ungeniert in ihrer Nacktheit. Dies steht in starkem Gegensatz zu den berühmten Frauen des Typs Venus Pudica, die ihre Geschlechtsteile und Brüste mit den Händen bedecken.

Vielleicht ist die mysteriöse Kugel mit den abstehenden Ohren, Nasen, Mündern und männlichen Genitalien zu ihren Füßen der rätselhafteste Teil der Skulptur. Diese aus Marmor gemeißelten Körperteile scheinen noch um ihre endgültige Form zu ringen. Otten bezieht sich hier sowohl auf sich selbst als Künstlerin als auch als Mutter, da sie während ihrer gesamten Schwangerschaft an einer Holzversion der Skulptur gearbeitet hat. Sie bezieht sich nicht nur auf Aphrodite, sondern auch auf Pygmalion und Galathea, einen Mythos über einen Bildhauer, der sich in seine Statue verliebt, die zum Leben erwacht. In diesem Sinne verbindet Ottens Skulptur die Mutter und die Künstlerin gleichermaßen als Schöpferin und distanziert sich von der vorherrschenden westlichen Vorstellung, wonach der Mann der letztendliche Schöpfer sei.

Der Ball zu den Füßen von Ottens Skulptur zeigt das, was auch im Bauch der schwangeren Frau vorgeht. Nur ist dies für uns nicht sichtbar, was unsere Neigung erklären könnte, den anschwellenden Bauch berühren zu wollen, um sein Innerstes zu spüren. So wie wir unsere Finger über das Geflecht der Adern in Widmers lebloser Plazenta gleiten lassen wollen, in der faszinierende Dinge geschehen sind, um die Entstehung eines Lebens zu ermöglichen. Mit diesem Akt versuchen wir uns sehnsuchtsvoll der geheimnisvollen Schöpfung des Lebens anzunähern. Doch wie beide Kunstwerke auf ihre eigene Art und Weise zeigen, ist diese Sehnsucht unstillbar.

 

Diesen Artikel verfasste Sietske Roorda auf Englisch.

Über den Autor/ die Autorin

Sietske Roorda

Sietske Roorda (Amsterdam, NL) ist eine niederländische Kunstkritikerin, Autorin und Podcasterin, die sich auf zeitgenössische Kunst spezialisiert hat und ein besonderes Interesse an politisch engagierter und feministischer Kunst hat.

Übersetzung

Sybille Hayek

Sybille Hayek ist Lektorin und Übersetzerin. Seit 2022 unterstützt sie unser Team ehrenamtlich mit ihrem geschulten Blick fürs Detail und einer großen Liebe zur Sprache.

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