Das poetische Potenzial des Klangs
Klangkunst ist ein relativ neuer Spross auf dem sich ständig ausweitenden Feld der Künste. Vor allem die digitale Revolution in der Audiotechnik hat in den letzten Jahrzehnten zahlreiche neue Möglichkeiten geschaffen, wie z. B. „objektbasiertes Audio“, eine Technik, die der Klangkünstler und Komponist Casimir Geelhoed (geb. 1995, NL) häufig einsetzt. Mit ein paar Tasten auf seinem iPad kann er bei einer Live-Performance eine große Anzahl virtueller Klangquellen gleichzeitig steuern. Klanggruppen verteilen sich wie Schwärme im Raum, fließen wie ein gewaltiger Strudel umher oder steigen hoch in die Lüfte. So entsteht ein abstraktes Formenspiel im Raum mit Schnittstellen zu Choreografie, Architektur und Skulptur.
Geelhoed definiert Musik als einen geregelten Klang und erforscht in seiner Arbeit die expressiven Beziehungen zwischen Software und Klang. Er baut seine eigenen digitalen Instrumente, die er für seine Kompositionen und bei Aufführungen verwendet. Geelhoeds Klangperformances (u. a. in der Raumklangbühne MONOM Berlin, im Stedelijk Museum Schiedam und während des FIBER-Festivals in Amsterdam) sind hauptsächlich räumlich orientiert. Als Komponist und Klangkünstler gehört er zur absoluten Avantgarde. Wir unterhalten uns an einem sonnigen Donnerstagnachmittag in Rotterdam, wo er sein Studio hat.
Geschichte der Klangkunst
In der Klangkunst kann alles, was Klänge erzeugt, zum Teil eines Kunstwerks werden. Die Kunstform geht auf die frühen Erfindungen des Futuristen Luigi Russolo zurück, der zwischen 1913 und 1930 Klangmaschinen baute, die das Getöse des Industriezeitalters und die Detonationen der Kriegsführung nachahmten. Visuelle Künstler und Komponisten wie Bill Fontana setzten in den 1950er und 1960er Jahren kinetische Skulpturen und elektronische Medien ein, um Live-Klänge mit aufgezeichneten Klängen zu vermischen. Man denke auch an Marcel Duchamps Komposition Erratum Musical: drei Stimmen, die Noten singen, die aus einem Hut gezogen wurden. Oder auch John Cage, der 1952 4'33″ komponierte, eine musikalische Partitur von vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden Stille.
Klangkunst wird oft auch von visueller Kunst, Performances und dem Bau von selbst hergestellten Instrumenten begleitet. Ein Beispiel hierfür ist der Klangkünstler Tarek Atoui (geb. 1980, Beirut, Libanon), der seine Instrumente selbst baut und dem jetzt eine Retrospektive im SMAK in Gent gewidmet ist. Atoui ist für seine außergewöhnlichen Soundskulpturen bekannt, in denen er Klang, Bild, Materie, Raum und Zeit miteinander verbindet. Casimir Geelhoed orientiert sich weniger an der bildenden Kunst als Atoui und konzentriert sich mehr auf die Komposition digitaler Klangproduktionen, wobei er technische Mittel wie z. B. Klangsynthese und objektbasiertes Audio verwendet.
Furcht, Fragilität und Vergänglichkeit
Als Komponist interessiert sich Geelhoed für die Veränderung von Klang im zeitlichen Verlauf. Was bedeutet es, wenn ein Klangelement entsteht, zerfällt, langsam erlischt oder von einem anderen Klangelement verdrängt wird? Durch die Abstrahierung des Mediums werden persönliche Ausdrucksformen universell. Geelhoed nutzt hierbei eine eigens entwickelte Software und interessiert sich für das poetische Potenzial des mit digitalen Mitteln transformierten Klangmaterials. Zu den wiederkehrenden Themen in seinen Kompositionen gehören Reizüberflutung, Furcht, Fragilität und Vergänglichkeit.
Sie sind Komponist und Softwareentwickler. Für wen entwickeln Sie Software?
Ich arbeite für 4DSOUND, ein Studio, das sich mit Raumklang als Medium beschäftigt. Ich bin einer der Entwickler der objektbasierten Audiosoftware 4DSOUND, die von Künstler*innen und Studios an den unterschiedlichsten Orten der Welt eingesetzt wird. Ich entwickle auch neue Software-Tools für bestimmte Performances und Installationen. Mit dieser Software versuche ich auch für mich neue Formen des Ausdrucks zu schaffen, jenseits der ausgetretenen Pfade der bestehenden Technologien. In der Klangbühne MONOM in Berlin habe ich schon mehrmals meine eigenen Kompositionen aufgeführt. So habe ich zum Beispiel in der Performance Scatter, Swarm, Sublimate (verstreuen, ausschwärmen, sublimieren, uraufgeführt 2022 auf dem 57-Lautsprecher-System von MONOM in Berlin) auf ausdrucksstarke Weise von „Partikelsystemen“ Gebrauch gemacht. Mit ein paar Knöpfen auf meinem iPad kann ich in einer Live-Performance eine große Anzahl von virtuellen Klangquellen gleichzeitig steuern, darunter auch Algorithmen, die von Systemen aus der Natur inspiriert sind. Der Kontrast zwischen Ordnung und Chaos, Stabilität und Instabilität und die Richtung des fließenden Klangs werden dabei zu spielbaren musikalischen Parametern. Klanggruppen verteilen sich wie Schwärme im Raum, fließen wie ein gewaltiger Wirbel umher oder fliegen hoch in die Lüfte empor.
Unser Gespräch dreht sich weiter um die Möglichkeiten der Klangkunst und um Komponisten zeitgenössischer klassischer Musik, die die unterschiedlichsten Klänge in ihre Kompositionen einfließen lassen. Angefangen bei Alltagsgegenständen wie Kuhglocken (Mahler), herabstürzendem Wasser (Tan Dun, Wasserpassion nach St. Matthäus) oder einem Tablett mit Weingläsern, das auf den Boden geworfen wird (Ligetti). Dabei handelt es sich oft um musikalische und klangliche Grenzbereiche. Ein ausgezeichnetes Beispiel hierfür ist die Klanginstallation Borderlands (Grenzbereiche) von Geelhoeds und Anni Nöps, die Anfang des Jahres im Stedelijk Museum Schiedam während der Ausstellung Ekstasis, einem Universum aus Licht und Klang, zu erleben war.
Können Sie mir mehr über Borderlands und Ihre Performances in Europa erzählen?
Die Installation Borderlands (2023) ist in Zusammenarbeit mit der Klangkünstlerin Anni Nöps entstanden. Wir haben objektbasiertes Audio und kanalbasiertes Audio in einer 20- bis 30-minütigen Schleife verwendet. Für uns war Borderlands ein Versuch, einen Raum „an der Grenze des Wahrnehmbaren“ zu schaffen. Das Konzept der Grenzbereiche findet sich in diesem Werk in mehrfacher Hinsicht wieder. Wer das Dachgeschoss des Museums betrat, sah sich nur mit Dunkelheit konfrontiert: Das war das Ende der Ausstellung. In den unteren Räumen konnte man eine reale visuelle Welt mit den unterschiedlichsten Installationen entdecken, oben im Dachgeschoss tauchte man in eine imaginäre auditive Welt der Klangkunst und Musik ein. Mit virtueller Akustik und räumlichem Klang wurde die Illusion eines unendlichen Hörraums geschaffen, der sich in der Dunkelheit entfaltet und von traumartigen Klängen erfüllt wird. Es war eine bemerkenswerte Entscheidung des Museums, unser Kunstwerk, das ausschließlich aus Klang besteht, in die Ausstellung Ekstasis zu integrieren.
Was ist die Technik hinter Borderlands?
Das Soundmaterial selbst schwankt ständig zwischen realistischen und fiktiven Klängen; viele der Naturgeräusche (wie die Meeresbrandung oder das Knistern eines Feuers) wurden synthetisch mit Hilfe von Computercodes erzeugt. Die natürlichen Geräusche haben wir extensiv mit Soundeffekten bearbeitet. Als Besucher*in konnte man sich auf den Boden auf Kissen legen. Es war nicht klar zu erkennen, was real und was virtuell war. Reale Umgebungsgeräusche, wie der echte Regen, der auf das Dach fällt, oder das Läuten der Kirchenglocken in der Kapelle des Museums, wurden Teil der Klangkomposition.
Arbeiten Sie und Anni Nöps häufiger zusammen?
Ja, das tun wir. In unserer gemeinsamen Arbeit beschäftigen wir uns intensiv mit der Schaffung von „Hörräumen“, die zur Introspektion und zum achtsamen Zuhören einladen. Wir treten gemeinsam auf und organisieren Veranstaltungen, wo wir versuchen, eine Brücke zwischen zeitgenössisch komponierter Musik und der Welt der elektronischen Musik zu schlagen.
Und was hat es mit Ihrem objektbasierten Audio auf sich?
Dabei handelt es sich um eine Kombination aus speziellen Lautsprechersystemen und Softwaretechnologie, die es dem Klang ermöglicht, sich als virtuelle Klangquelle frei im Raum zu bewegen. Die Klänge können überall im Raum platziert werden. Es können auch Klänge simuliert werden, die von außerhalb des Raumes zu kommen scheinen. Klang, wie wir ihn im Alltag erleben, ist räumlich und dreidimensional. Unser Gehör ist sehr gut darin, Ort, Raum und Bewegung zu erkennen. Wenn man mit objektbasiertem Audio arbeitet, kann man den Klang so komponieren, dass er dem natürlichen Verhalten des Klangs möglichst nahekommt. Es ist eine intensivere und intuitivere Art, mit Klang zu arbeiten, die eine enorme Bandbreite an neuen Ausdrucksformen mit sich bringt. Man denkt dann nicht nur in allgemeinen musikalischen Dimensionen, sondern auch in abstrakten Formenspielen im Raum, die Schnittstellen zu Choreografie, Architektur und Skulptur schaffen.
Weitere Informationen:
www.smak.be/nl/tentoonstellingen/tarek-atoui
Das Interview wurde von Etienne Boileau in englischer Sprache geführt.
Titelbild: Monom. Foto: Becca Crawford