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Moving Female Sculptures – Performative Lectures zu Berliner Bildhauerinnen der Moderne

In ihrem Performanceprojekt Moving Female Sculptures erinnert die Künstlerin Birgit Szepanski in Berlin an vergessene Bildhauerinnen der 1920er Jahre, die die Kunstszene der Stadt mit beeinflussten.

Moving Female Sculptures ist ein urbanes Kunstprojekt, das Bildhauerinnen der sogenannten ›ersten Generation‹ wie Emy Roeder, Renée Sintenis, Louise Stomps, Jenny Wiegmann-Mucchi, Christa Winsloe, Tina Haim-Wentscher und Sophie Wolff an ihren Lebens- und Arbeitsorten in Berlin sichtbar macht. In vier performativen Lectures hat die Künstlerin und Kunstwissenschaftlerin Birgit Szepanski im Herbst 2023 Skulpturen von bis heute wenig ausgestellten und teilweise vergessenen Bildhauerinnen der 1920er Jahre vorgestellt und mit öffentlichen Orten in Berlin verknüpft. Das Projekt ist eine Hommage an die Bildhauerinnen, es ist ein feministisches Statement und eine urbane Utopie: Denn wie könnte die Stadt aussehen, wenn diese ersten modernen Bildhauerinnen großformatige Skulpturen hätten realisieren können? Wie würden Künstlerinnen heute die Stadt wahrnehmen und erleben, wenn es mehr Skulpturen von Bildhauerinnen gäbe und wir auf eine feministische Skulpturentradition blicken könnten? Wäre so vielleicht eine female city in der Stadt entstanden?

In Berlin und in anderen europäischen Hauptstädten gibt es nur wenige Skulpturen von Bildhauerinnen im urbanen Raum. Vielmehr prägen klassische monumentale Skulpturen repräsentative Orte in der Stadt. Viele Ideen und Visionen von Künstlerinnen wurden nicht realisiert und damit ihre Geschichten nicht (weiter)erzählt. Mit diesen kunsthistorischen und urbanen Leerstellen setzte sich Birgit Szepanski auseinander und fand mit Moving Female Sculpture eine diskursive wie poetische Möglichkeit des Sichtbarmachens.

Moving Female Sculpture, Birgit Szepanski, Performance (2023) at Steinplatz in front of the University of the Arts, Berlin. Handout with image of Renée Sintenis' sculpture Daphne (1918) hanging from a tree. Photos: Susanne Brodhage
Moving Female Sculpture, Birgit Szepanski, Performance (2023) am Steinplatz vor der Universität der Künste, Berlin. Hand-Out mit Abbildung von Renée Sintenis Skulptur Daphne (1918) am Baum hängend. Fotos: Susanne Brodhage

Birgit Szepanski erzählt in ihren performativen Lectures von den schwierigen Lebenswegen der Bildhauerinnen und schafft Verknüpfungen zwischen den Orten, einzelnen Werken und biografischen Herausforderungen dieser Bildhauerinnen der Moderne. Daraus entstanden spannende Synergien. Beispielsweise stellte Szepanski auf der Wiese des Steinplatzes, der vis-a-vis zur Universität der Künste liegt, die bekannte Skulptur Daphne (1918) von Renée Sintenis (1888-1965) nach. Unter einer Birke führte Birgit Szepanski in langsamen und suchenden Bewegungen ihre Arme über den Kopf und legte die Hände in leichter Drehung übereinander. Dabei schloss sie ihre Augen. Die Analogie zwischen ihrer Körperhaltung und Sintenis’ Daphne war offensichtlich: Renée Sintenis ließ aus Daphnes Armen und Achselhöhlen Zweige und Blätter wachsen und gestaltete ihre Haare zu einer Baumkrone, auch ihre Arme ragen suchend in den Himmel. Der Titel Daphne bezieht sich auf Ovids Erzählung Metamorphosen: Dort wird die Nymphe Daphne in einen Lorbeerbaum verwandelt, um Apollos Liebeswerben zu entgehen, und wird unsichtbar. Daphne ist auch bei Sintenis eine Figur zwischen den Welten: zwischen organischer Natur, Mensch-Sein und Gender.

Szepanski verknüpfte in ihrer Performative Lecture das Changieren zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit mit Sintenis’ Biografie und dem repräsentativen Ort an der Universität der Künste. Renée Sintenis durfte wie viele Frauen bis 1919 nicht an einer deutschen Kunstakademie studieren, sie bildete sich daher in frei zugänglichen Kursen weiter. In den 1920er Jahren formte sie kleinformatige Tierskulpturen wie Rehe, Esel und Hunde, um den Monumentalskulpturen der damaligen Bildhauer etwas zu entgegnen. Diese verkaufte sie international. Im Nationalsozialismus als ›entartete Künstlerin‹ diffamiert, bekam sie zwar nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Aufträge, jedoch keine für Skulpturen im urbanen Raum wie ihre männlichen Kollegen, die nun abstrakt und monumental arbeiteten. Mitte der 1950er Jahre erhielt Renée Sintenis eine Professur an der heutigen Universität der Künste, die sie im gleichen Jahr wieder aufgab. Zu spät in ihrer Lebensbiografie erfolgte diese institutionelle Anerkennung. Birgit Szepanskis Performance und Lecture machten diese unsichtbaren Ambivalenzen und Widersprüche sichtbar. Die Skulptur Daphne, so Szepanskis künstlerische Utopie, könnte heute auf dem Steinplatz stehen und dort ein kunsthistorisches und politisches Zeichen setzen. Mit dem Körper dargestellt und in Bewegung gesetzt, veränderte die Performance den Ort temporär und schleuste eine feministische Erzählung in die Stadt ein.

Moving Female Sculpture, Birgit Szepanski und May Ament, Performance (2023) at Kantstraße/ Joachimsthaler Straße in the Aviary Garden, Berlin. Handout with image of Tina Haim-Wentscher's Two Dancing Balinese Girls (1930s). Photos: Frank Peters
Moving Female Sculpture, Birgit Szepanski und May Ament, Performance (2023) an der Kantstraße/ Joachimsthaler Straße im Volierengarten, Berlin. Hand-Out mit Abbildung von Tina Haim-Wentschers Zwei tanzende balinesische Mädchen (1930er Jahre). Fotos: Frank Peters

Die Performance zu der heute in Deutschland unbekannten Tina Haim-Wentscher (1887 - 1974) fand in einem Volierengarten in der Nähe der Gedächtniskirche statt. Hier stand, so recherchierte Szepanski, von 1901 bis 1938 die Lewin-Funcke-Schule, ein Privatatelier für Zeichnen und Modellieren, das auch Künstlerinnen besuchen durften. Haim-Wentscher absolvierte dort zwei Jahre lang Kurse. Sie wurde in Berlin durch ihre sensiblen, in Stein oder Holz gestalteten Porträts von der Schauspielerin Tilla Durieux und der Bildhauerin Käthe Kollwitz berühmt und erhielt zahlreiche Aufträge. Die Performance nahm Tina Haim-Wentschers Darstellungen von Frauenpaaren auf: Birgit Szepanski stellte zusammen mit der Künstlerin May Ament die Skulpturen Renate und Lola (1923) und Zwei tanzende balinesische Mädchen aus den 1930er Jahren dar, die Haim-Wentscher während ihrer Reisen in Ostasien gestaltete. Dort verblieb die Bildhauerin, um dem Nationalsozialismus zu entgehen. Später lebte sie in Australien, wo sie zu einer bekannten Bildhauerin wurde.

Moving Female Sculpture, Birgit Szepanski und May Ament, Performance (2023) at the Zoological Garden, Berlin. Handout of a photo of Christa Winsloe with her rabbits (1926). Photos: Frank Peters
Moving Female Sculpture, Birgit Szepanski und May Ament, Performance (2023) am Zoologischen Garten, Berlin. Hand-Out eines Fotos von Christa Winsloe mit ihren Kaninchen (1926). Fotos: Frank Peters

Die ›Schwesternschaft‹, die in Tina Haim-Wentschers Skulpturen eine Rolle spielt, ist auch ein Motiv von Moving Female Sculpture: Die Bildhauerinnen, die durch ihren künstlerischen Mut und eigenständiges Werk nachfolgenden Generationen den Weg ebneten, wurden für die Dauer der Performative Lectures präsent und ihre Skulpturen lebendig. Gerade bei Bildhauerinnen wie Tina Haim-Wentscher, Christa Winsloe und Sophie Wolff, deren Leben durch viele Brüche geprägt waren, entstand durch die Performances eine sensitive Nähe. Viele Werke dieser Bildhauerinnen sind verlorengegangen. Das Darstellen von Christa Winsloes (1888 - 1944) Tierskulpturen am Zoologischen Garten, in dem sie in den 1920er Jahren vor den Tiergehegen zeichnete und auch Tiere in Plastilin modellierte, ließ eine dichte Atmosphäre entstehen: Während Birgit Szepanski mit May Ament die verschollenen Tierskulpturen von Christa Winsloe nachstellten, waren Tiere aus dem Zoologischen Garten zu hören und zu riechen.

Moving Female Sculpture, Birgit Szepanski, Performance (2023) in the courtyard of the Georg Kolbe Museum, Berlin, and at Jenny Wiegmann-Mucchis‘ sculpture The Year 1965. Photos: Susanne Brodhage
Moving Female Sculpture, Birgit Szepanski, Performance (2023) im Museumsvorgarten Georg Kolbe Museum, Berlin und an der Jenny Wiegmann-Mucchis Skulptur Das Jahr 1965. Fotos: Susanne Brodhage

Eine weitere Performative Lecture fand im öffentlich zugänglichen Museumsgarten des Georg Kolbe Museums statt. Neben zahlreichen Skulpturen von Georg Kolbe und anderen Bildhauern steht im hinteren Teil des Gartens, am Rande eines Beetes, eine Skulptur von Louise Stomps. Seitlich im Vorgarten befindet sich eine Skulptur von Jenny Wiegmann-Mucchi. Birgit Szepanski machte in der Performance besonders auf diese periphere Platzierung der Skulpturen aufmerksam. Die weit auseinanderliegenden Skulpturen wurden von ihr mit einem performativen Gang durch den Museumsgarten verbunden. Szepanski berührte dabei mit ihrem Körper und ihren Händen die Museumshauswand. Sie tastete sich an ihr entlang und verwies damit auf Machtverhältnisse zwischen männlicher und weiblicher Repräsentation in Museen und Sammlungen.

Three-part publication Moving Female Sculpture (2023), Helene Nathan Publishing House, Berlin. Photo: Birgit Szepanski
Dreiteilige Publikation Moving Female Sculpture (2023), Helene Nathan Verlag, Berlin. Foto: Birgit Szepanski

Zu Moving Female Sculptures entstand eine dreiteilige Publikation im Helene Nathan Verlag. Mit einer Baumwolltasche, sieben Postkarten und einem Textbooklet können die Leserinnen und Leser die Orte der performativen Lectures aufsuchen und feministische Erzählungen in die Stadt einfügen.

Autorin: Birgit Szepanski

 

Deutsch - Englisch

Übersetzung

Sybille Hayek

Sybille Hayek ist Lektorin und Übersetzerin. Seit 2022 unterstützt sie unser Team ehrenamtlich mit ihrem geschulten Blick fürs Detail und einer großen Liebe zur Sprache.

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