Wir gedenken! Kollektive Rituale und Erinnerungsskulptur im Online Club
Wenn wir gedenken, dann halten wir für gewöhnlich inne und erinnern uns. Die Fragen, woran wir uns erinnern, was uns prägt und begleitet, spielten in diesem Online Club am 2. Mai 2022 eine ebenso wichtige Rolle, wie der Prozess des sich Erinnerns als ein uns alle verbindendes Element.
Zwei besonders eindrucksvolle Positionen zeigten unseren 45 interessierten Teilnehmerinnen und Teilnehmern anhand ihrer Werke, welche vielfältigen Arten von Gedenken es geben kann, wie wichtig unsere Erinnerungen sind und wie sehr diese uns beeinflussen.
Gedenken als gemeinschaftliches Erlebnis: Die Rituale von Ida van der Lee
Das Ritual als kulturelle gemeinschaftliche Form des Gedenkens scheint in unserer heutigen virtuellen und zukunftsorientierten Welt ein verlorener Begriff zu sein. Traditionelle Rituale, die vormals eine Möglichkeit boten, zusammenzufinden und Dankbarkeit oder Bedauern der allgemeinen und individuellen Vergangenheit gegenüber auszudrücken, werden oftmals assoziiert mit einem starren Prozedere, das gerne als nicht als zeitgemäß empfunden wird.
Die in Amsterdam lebende niederländische Künstlerin Ida van der Lee hat sich in ihrem Werk dem Erschaffen neuer moderner Rituale verschrieben. Mit ihrem Studio Ritual Art, einem Netzwerk aus Kunstschaffenden und Freiwilligen, kreiert sie sorgfältig inszenierte Events zu Themen, die meist in unserer heutigen Gesellschaft tabuisiert werden, die als schwierig oder zu schmerzhaft empfunden werden, wie beispielsweise Tod oder Krieg.
Ida van der Lee hat sich zum Ziel gemacht, diese ans Licht zu bringen und das Gedenken in teils groß angelegten Ritualen im öffentlichem Raum zu einer gemeinschaftlichen Erfahrung zu machen, die als schön und besonders empfunden wird.
Der künstlerische Aspekt, die detaillierte, ästhetische Gestaltung und die sorgsam ausgewählten Elemente, ebenso wie die erzählerischen Strukturen spielen dabei eine wichtige Rolle. Ihre Rituale binden interdisziplinär alle Kunstformen ein, von Schauspiel über Tanz zu bildender Kunst, eigene Arbeiten und die anderer Künstlerinnen und Künstler. Sie können sich weiter entwickeln, sie können wachsen und zu neuen Orten reisen.
In diesem Online Club führte Ida van der Lee die Teilnehmenden durch zwei exemplarische Rituale.
Das Projekt All Souls’ Day Everywhere (2005-2022), das auf dem Feiertag All Souls' day (Allerseelen) fußt, widmet sich der Begegnung und der Auseinandersetzung mit dem Tod, dem schmerzlichen Thema, das früher oder später Teil eines jeden Lebens ist. Das Ritual fordert die Teilnehmenden zum Erinnern an einen geliebten Menschen auf und bieten im Austausch mit anderen gleichzeitig eine Chance das Leben zu feiern.
Erstmals fand dieses Ritual 2005 auf dem Nieuwe Ooster Friedhof in Amsterdam, einem der größten Friedhöfe der Niederlande statt.
Bei Nacht werden die Besucherinnen und Besucher eingeladen auf dem Friedhof verschiedene Stationen bei Kerzenschein zu durchwandern und interaktiv zu erleben. Eindrucksvoll ist neben vielen anderen Stationen beispielsweise das Ritual Dining with the Dead.
An einer opulenten Tafel, eingedeckt mit edlen Tischdecken, Kristallgläsern und Silberbesteck, können Angehörige für ihre lieben Verstorbenen einen Platz reservieren indem sie ein, für diese charakteristisches, Zitat auf einen Teller schreiben. Die geliebten Menschen werden so präsent, nicht nur für den Einzelnen, sondern als Teil eines gemeinschaftlichen Geschehens.
Ein weiteres Ritual, die White Laundry, verdeutlicht beispielhaft, mit wieviel individueller Emotionalität der Prozess des Sich-Erinnerns aufgeladen sein kann.
Kleidungsstücke hängen hier auf einer Wäscheleine und sind beschriftet mit verschiedenen Beziehungsbegriffen, wie Mutter, Bruder, Held:in oder Arbeitskolleg:in. Die Teilnehmenden wählen daraus eine Beziehung bzw. ein Kleidungsstück aus. Über die anschließende Entscheidung, ob sie die Stücke in kaltem oder warmem Wasser waschen und mit welcher Intensität sie diese bearbeiten, geben sie ihren Erinnerungen und Emotionen physisch Ausdruck. Waren es warme angenehme Erinnerungen, oder war die Beziehung eher schwierig und kalt?
Viele dieser Rituale nutzen Symbole, um den Menschen Erinnerungen zu entlocken, zum Erzählen anzuregen und über eben dieses Teilen der Erinnerung den Tod aus einer neuen Perspektive wahrzunehmen. Und dieser Perspektivwechsel ist es, der im Sinne der Künstlerin ein gutes Ritual ausmacht.
Als jährlich wiederkehrendes Event hat sich All Souls’ Day Everywhere über die Jahre weiterentwickelt und stößt auf unglaublich positive Resonanz. Zwischen 2007 und 2015 wurden rund 100 Feiern mit mehr als 100.000 Besucher:innen durchgeführt. 2008 erhielt das Projekt den Yarden-Preis, sowie 2012 den Kulturpreis von Haarlemmermeer. 2018 wurde es nach Dänemark eingeladen und wird dieses Jahr auf dem größten Friedhof Kopenhagens stattfinden.
Obwohl anfänglich mit Ablehnung und Skepsis von Behörden und Betreibenden bedacht, zeigt diese Resonanz beispielhaft, wie Kunst eine Veränderung in der Gesellschaft und ihrer Perspektive bewirken kann.
Ein weiteres eindrucksvolles Projekt, das 2012 entstand und inzwischen virtuell weiter existiert, ist Names and Numbers (2012-2021). Es findet am 4. Mai, dem Gedenktag der Opfer des zweiten Weltkrieges in den Niederlanden statt. Das Projekt erinnert an die 2800 deportierten Jüdinnen und Juden des Amsterdamer Stadtteils Oosterparkbuurt, dem Viertel, in dem Ida van der Lee selbst aufgewachsen ist. Über verschiedene Stationen bekommen die Teilnehmenden Gelegenheit, eines der vielen Opfer dieser Nachbarschaft symbolisch nach Hause zu begleiten und dabei die Geschichte als Teil von uns allen zu begreifen.
Der Pfad des Rituals führt mit dem Eintritt in die rituelle Zeit zu einem Archiv, bei dem die Teilnehmenden den Namen eines Opfers auswählen und für diesen ein persönliches Namensschild gestalten. Modellhafte Schienen aus Kreide zeichnen die Strecken der Deportationen nach, entlang derer die Menschen pilgern und verschiedene Informationen und Zeitzeugnisse entdecken. Entsprechend dem Ziel des Perspektivwechsels führen die Wege jedoch nicht zu den Konzentrationslagern und dem grausamen Ende der Jüdinnen und Juden hin. Stattdessen gelangen die Teilnehmenden am Ende zum „Street Monument“, einer großen Straßenkarte von Oosterparkbuurt, auf der sie das Namensschild an der jeweiligen Heimatadresse des Opfers niedergelegen.
Mit jedem Jahr wächst diese Karte mit dem Ziel, irgendwann alle Opfer von Oosterparkbuurter nach Hause bringen zu können.
Beide vorgestellten Rituale zeigen eindrucksvoll wie wichtig das gemeinsame aktive Gedenken auch in unserer heutigen Gesellschaft ist und wie Rituale nachhaltig genutzt werden können, um ein soziales Bewusstsein für den Stellenwert unserer Vergangenheit zu generieren.
Das Ringen mit dem Leben – Im Dialog mit den Skulpturen von Marvin Liberman
Im zweiten Vortrag in dieses Online Clubs stellte der in Spanien lebende amerikanische Künstler Marvin Liberman seine sensiblen Werke vor.
Während seine frühen Arbeiten zumeist figurative Selbstporträts in Ton waren, entstehen nun abstrakte Skulpturen in gedämpften Farben aus einfachen Materialien, wie Gaze und Ästen. Oft sind es fragile Gebilde aus textilen Faltenwürfen, unter denen sich geisterhaft schwebende Figuren abzuzeichnen scheinen. Ein anderes Mal wirken die Materialen wie fest verschlungen, als wäre etwas in ihnen gefangen, das sich zwischen den Ästen windet.
Das Material Gaze, als klassisches Verbandsmaterial, birgt Assoziationen von Verletzungen, die die Figuren mit sich tragen und die aus einer uns unbekannten Vergangenheit stammen.
Die Auseinandersetzung mit diesen fragilen Gestalten wirft Fragen auf, und genau das will der Künstler.
Eindrucksvoll erzählte uns Marvin Liberman im Online Club von seinem Leben und seinem Werdegang, seinen jüdischen Wurzeln, der Fluchtgeschichte seiner ukrainischen Großeltern, von persönlichen dramatische Erfahrungen als junger Mann und seiner langjährige Tätigkeit im U.S. Holocaust Memorial Museum, Washington. Schließlich kehrt Liberman zur Bildhauerei zurück. Aber nicht, wie man meinen könnte, um das Thema der Opfer des Holocaust, das ihn so viele Jahre beschäftigt hat, aufzuarbeiten. Sondern um sich dem Drama und Trauma der Überlebenden zu widmen.
Ausgehend von seiner eigenen Erfahrung mit Traumata legt er den Fokus seiner Arbeit auf das Geschehen der Gegenwart und zielt darauf, das Bewusstsein der Betrachtenden für die Zeit in der wir leben, zu schärfen. Welche Traumata haben wir selbst durchlebt? Was haben diese Erfahrungen mit uns gemacht? Welche Spuren haben sie hinterlassen und wie haben sie uns verändert bzw. geprägt?
Die Fragilität seiner Materialien ist gezielt gewählt und steht für unsere eigene Verwundbarkeit im Leben, sowohl physisch als auch emotional. Seine Skulpturen entwickeln sich aus dem Prozess heraus, ohne einen vorherigen Entwurf. Das ist spürbar, denn die Figuren scheinen sich unter dem Material erst zu entwickeln, zu bewegen und mit dem Leben zu ringen, wie Liberman es selbst ausdrückt.
Bewusst schafft er seine Figuren in Lebensgröße und präsentiert sie im kontrastierenden Licht. Das Spiel von Licht und Schatten erweckt seine Figuren zum Leben. Die Begegnung mit den lebensgroßen Figuren geschieht quasi von Angesicht zu Angesicht, als wäre ein Gespräch möglich. Und eben dieser intime Austausch ist das Ziel, das der Künstler mit seinen Arbeiten verfolgt. Seine Arbeiten sind Körper, die ihre eigene verborgene Geschichte in sich tragen. Es ist eine Geschichte von traumatischen Erlebnissen, die diese Körper verändert und geprägt hat. Und erst im Dialog und der Auseinandersetzung, ist es möglich das Verborgene zu begreifen, die menschliche Natur, ihre Verletzlichkeit, ihren Überlebenswillen und die Wunden, die unter der Oberfläche verborgen liegen.
Autorin: Julia Weiss
Julia ist Kunsthistorikerin aus München und arbeitet seit April 2022 für sculpture network.
Titelbild: The Online Club, 2 May, Ida van der Lee, Studio Ritual Art, Names and Numbers, Amsterdam, NL, 2012-2020