MK Kaehne, Day (Koffer: Selbst), 2001, Fotografie, 120 x 160 cm.
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Sculpting Things:  Design und zeitgenössische Skulptur

In einer von Algorithmen und Massendesign geprägten Welt spricht der in New York ansässige Künstler Nikita Seleznev über das Schaffen von Objekten, die sich einer Definition verweigern, und darüber, wie sich Skulptur, Zweckmäßigkeit und Absurdität miteinander  vermischen lassen, damit aus den bekannten Formen Neues entsteht.

Mich zieht Kunst mit utopischem Potential an, also Arbeiten, die sich trauen, etwas radikal Unterschiedliches zu konzipieren. Als jemand, der in Russland aufgewachsen ist und dort studiert hat, hat mich der sowjetische Konstruktivismus schon lange inspiriert, vor allem sein Streben nach radikaler Umformung des menschlichen Bewusstseins durch die Transformation der materiellen Welt. Die Konstruktivisten lehnten die passive, an Galerien gebundene bzw. für Galerien bestimmte Kunst ab. Für sie war Kunst stattdessen eine aktive, funktionale Kraft, die in das alltägliche Leben eingewoben ist – von der urbanen Infrastruktur bis zur häuslichen Umgebung.

Als interdisziplinärer Künstler und Bildhauer erkenne ich heute einen ähnlichen transformativen Impuls, der auf Experimentierkonzepten für Materialien, Formen und Produktionsarten basiert. Diese Konzepte resultieren in Objekten, die sich an der Schnittstelle zwischen zeitgenössischer Kunst, Design und Handwerk bewegen und sich daher einer einfachen Kategorisierung entziehen. Solche Projekte bieten selten nur funktionale Lösungen – und das sollen sie auch nicht. Vielmehr regen sie uns dazu an, die Gestaltungsstrukturen unserer persönlichen Räume sowie unser Verhältnis zu Alltagsobjekten zu überdenken und zu verstehen, welchen Einfluss historische Narrative auf diese Beziehungen in der heutigen Gesellschaft haben können.

Oft besitzen diese Objekte eine bewundernswerte Absurdität: Plötzlich wird etwas, das an einen Stuhl erinnert (oder womöglich sogar als ein solcher funktioniert), zu einer Entität mit dichter struktureller und konzeptioneller Komplexität. Die schwedische Künstlerin Anna Uddenberg lebt diese Spannung aus, indem sie Designästhetik mit skulpturalen und performativen Darstellungen des weiblichen Körpers verbindet. Ihre futuristischen Stühle und Hocker dienen als Podeste oder Requisiten für eine Performance, wobei sie entweder als eigenständige Objekte oder als eine Art prothetische Zusätze zu den Körpern der Ausführenden fungieren.

Uddenbergs Arbeit hinterfragt unsere Auseinandersetzung mit der menschlichen Form in Zeiten des Spätkapitalismus, der rasanten technologischen Entwicklung und der visuellen Logik der sozialen Medien.

In einem Interview für Artnet in 2024 reflektierte sie über diese Entwicklungen wie folgt:

„Mich interessiert, wie Menschen soziale Medien nutzen und wie uns Algorithmen heutzutage beeinflussen oder sogar konditionieren. Wie prägt das unser Selbstbild? Und wie kommt es, dass wir willentlich zu Produkten werden? Die Vorstellung von „natürlich“ oder „authentisch“ wurde so oft kopiert, dass sie jeglichen Bezug zum Original verloren hat. Vielleicht sind wir aktuell alle schlichtweg nur wilde Mutanten.“

Die sozialen Medien und die digitale Bildkultur waren von zentraler Bedeutung für Uddenbergs künstlerische Laufbahn. Ihr Aufstieg in den 2010er Jahren überschnitt sich zeitlich mit dem Aufkommen von Plattformen wie Offluxo and Tendermass. Dort präsentierte sie ihre visuell suggestiven und konzeptionell vielschichtigen Arbeiten, die Publikum und Kurator:innen gleichermaßen neugierig machten. Uddenbergs Objekte agieren auf zwei Ebenen: Sie sind intellektuell anspruchsvoll und überzeugen im Hinblick auf die Ästhetik von Online-Plattformen und deren Scroll-Funktionen. Uddenberg infiltriert diese Informations-Feeds und nutzt sie als Bühne, um die Absurdität und Gewalt zu entlarven, die im unerbittlichen Streben, „fitter, glücklicher und produktiver“ zu sein, steckt. So offenbart sie die Widersprüche und den emotionalen Druck, die in der heutigen Gesellschaft existieren.

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Anna Uddenberg, Continental Breakfast (2023)

Bislang ist Uddenbergs Projekt Continental Breakfast (2023, dt. Kontinentales Frühstück) ihr erfolgreichstes in den sozialen Netzwerken. Es zeigt Objekte, die auf den ersten Blick funktional und ergonomisch erscheinen, die jedoch eine Hyperfunktionalität offenbaren, durch die sie für menschliche Körper unbrauchbar und nutzlos werden. Statt Komfort und Behaglichkeit zu bieten, rufen sie Hilflosigkeit und Verwundbarkeit hervor. Dadurch entsteht ein scharfer Kontrast zwischen dem suggestiven Design und der verstörenden Ausführungsform.

Die Spannung zwischen Funktion und Konzept, Material und Metapher hinterfragt auch die künstlerische Identität. Wenn ein Stuhl auch eine Skulptur ist, was ist dann sein Schöpfer/seine Schöpferin – Künstler:in, Designer:in, Kunsthandwerker:in, Hersteller:in? Und wenn sich das Objekt einer Kategorisierung widersetzt, kann sein Schöpfer/seine Schöpferin das Gleiche tun?

Der in Portugal lebende amerikanische Künstler Dozie Kanu spricht mit Bryony Stone offen über diese Ambiguität:

„Für mich ist es wichtig, funktionale Objekte zu schaffen, aber die funktionale Ebene meiner Arbeit ist eigentlich nur eine Ebene. Es ist mir ziemlich egal, wie ich dabei bezeichnet werde. Ich werde weiterhin Objekte machen, die mich und meine Gedanken authentisch repräsentieren.“

Kanus plastische Arbeiten haben anfangs oft die Form von Möbelstücken, die sich zu komplexen metaphorischen Arealen entwickeln. Seine Objekte verwischen die Grenze zwischen Gebrauchsgegenstand und konzeptioneller Skulptur und integrieren dabei historische Referenzen und sozio-politische Kritik. Eine seiner wichtigsten Arbeiten ist eine Serie elektrischer Stühle aus Marmor. Es sind Objekte, die an Hinrichtungsgegenstände erinnern, die jedoch eigentlich als Denkmäler gedacht sind. Diese Arbeiten treten in den Diskurs von Achille Mbembes Konzept der Nekropolitik ein und zeigen die Verankerung von Staatsmacht, Gewalt und Tod in materieller Form auf.

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Dozie Kanu

Dozie Kanus Erinnerungen als schwarzer Jugendlicher in Texas prägen seine Sichtweise und fließen oft in seine Arbeiten ein. Ein Beispiel ist das Lila in seinen Arbeiten – eine Referenz zu „Lean“   und Hinweis auf ein Getränk, das seinen Ursprung in Houston der 1960er Jahre hatte. Die Mischung aus kodein- und promethazinhaltigem Hustensaft, Sodawasser und Fruchtbonbons wurde in der Hip-Hop-Kultur, besonders in den Südstaaten der USA, Kult.

Auf der Höhe seines Erfolgs entfloh Dozie Kanu 2018 der harten Kunstszene in Amerika und zog nach Portugal. In einer Kleinstadt richtete er seine Werkstatt in einem Atelierhaus ein. Ehrlich gesagt, das hat mich besonders gefreut. Ich habe schon immer eine Vorliebe für gute, erfolgreiche Fluchtgeschichten gehabt.

Um wie Uddenberg und Kanu Kunst und funktionale Objekte miteinander zu verschmelzen, ist ein interdisziplinärer Ansatz erforderlich – sowohl auf der konzeptionellen Ebene als auch bei der eigentlichen Anfertigung der Objekte. So arbeitet Anne Uddenberg mit Spezialisten für Sonderanfertigungen, Schweißtechnik und Produktion zusammen. Dozie Kanu kombiniert wiederum auf radikal organische Weise werkstattgefertigte Elemente, individuell maßgeschneiderte Objekte und Alltagsgegenstände miteinander. An diesen komplexen Prozessen sind immer Hersteller und Verarbeiter sowie technische Teams beteiligt. Ich empfinde diesen kollektiven Gestaltungsprozess als natürlich und stimulierend.

Mein künstlerischer Ansatz ist stark von der Zusammenarbeit mit kreativen Menschen aus verschiedenen Bereichen wie Kunst, Bauwesen, Architektur, Design und Technologie geprägt. Viele meiner Arbeiten, darunter mein neuestes Video für Norma, sind in Zusammenarbeit mit dem Architekten und Musiker Grigory Baluev entstanden. Für das Projekt war der Einsatz digitaler Animation sowie die Produktion von Plastiken erforderlich, die mit 3D-Drucktechnologie gefertigt wurden. Obwohl ich selbst ein ausgebildeter Bildhauer bin, betrachte ich die ausgelagerte Produktion großer Installationen und Objekte als integralen Bestandteil meines künstlerischen Prozesses. Oft stelle ich mir eine Art Gilde des 21. Jahrhunderts vor: eine Gemeinschaft von Machern, in der Menschen und Maschinen nebeneinander arbeiten und so Handwerkskunst und Innovation zu einem neuen Typ kollektiven Schöpfungsprozesses zusammenführen.

In einigen von Kanus und Udderbergs Arbeiten sind gefundene Objekte enthalten. Dabei handelt es sich oft um einfache Alltagsgegenstände, wie beispielsweise Autofelgen in Kanu’s Chair [iii] (2018), Außenheizungen in Uddenbergs Continental Breakfast (2023) oder Koffer, wie sie in Uddenbergs Savage #4 (quilt queen) (2017) und in Kanus Installation in Zusammenarbeit mit RIMOWA (2018) zu sehen sind.

MK Kaehne, Day (Koffer: Selbst), 2001, Fotografie, 120 x 160 cm.
MK Kaehne, Day (Koffer: Selbst), 2001, Fotografie, 120 x 160 cm.

Meiner Meinung nach interpretiert der in Litauen geborene und in Berlin lebende Bildhauer MK Maehne die Ready-mades jedoch auf besonders überzeugende Weise neu. Seine Konstruktionen behalten den klaren Bezug zur Konzeptkunst des 20. Jahrhunderts, zu den Ready-mades und zur Avantgarde-Bewegung Fluxus, an die sein Werk anknüpft. In der visuellen Sprache von Kaufhausauslagen zeichnet, konstruiert und arrangiert Kaehne Koffer-Objekte (sein Koffer), um sozialen und autobiographischen Themen nachzuspüren und die Konsumkultur kritisch zu hinterfragen. Seine Koffer verbreiten eine verstörende Atmosphäre – manche erinnern an Sarkophage – und heben das Unheimliche in Alltagsgegenständen hervor, sobald diese in andere symbolische Bereiche übergehen. Trotz der anfänglichen Faszination durch die vertraute modernistische Ästhetik eröffnen diese Objekte mit ihren rätselhaften Aufbewahrungsfächern, surrealen Formen und der verstörenden Präzision unendliche Interpretationsmöglichkeiten.

Auf den ersten Blick mag die Umwandlung von Massenartikeln in handwerkliche Arbeiten dekorativ erscheinen. Im Gegensatz zu Kunstwerken, die grundsätzlich keine Funktion haben sollten, sollen Industriedesignprodukte nutzbar, effizient und massentauglich sein. Meiner Meinung nach ist diese Dichotomie nicht notwendig. Ich finde es wirksamer, bekannte Formen als Ausgangspunkt zu nehmen und sie in spielerische, unkalkulierbare, erratische Kompositionen umzugestalten. Ich glaube, dass die interessantesten Arbeiten an der Schnittstelle zwischen Disziplinen, Traditionen oder Medien entstehen. Diese Übergangsräume besitzen ein authentisches Potenzial, gerade weil es kein Drehbuch für ihre Abläufe gibt. Wenn man diese Bereiche betritt, ist man frei, etwas fundamental Neues anzubieten, und die anderen lassen sich oft darauf ein. Vielleicht erfassen sie nicht dein Grundkonzept, aber diese Ambiguität ermöglicht Experimente. Genau das macht diese Grenzbereiche für mich so faszinierend.

In den fest etablierten Systemen, in denen Trends vorgezeichnet und Erwartungen geweckt werden, hat es Innovation schwer. In den Randbereichen, in denen Unwägbarkeit herrscht, sind hingegen spektakuläre Zusammentreffen und unerwartete Entdeckungen möglich. Mir gefällt die Vorstellung, dass jemand ein Projekt fördert, obwohl man weiß, dass es scheitern könnte, und dass man somit von vornherein die Möglichkeit eines Irrtums unterstützt. Ich glaube, so kann etwas wahrhaft Utopisches entstehen.

 

Aufgenommen und bearbeitet von Ekaterina (Katya) Savchenko.

Nikita Seleznev lebt und arbeitet in New York, USA.

Ekaterina (Katya) Savchenko ist Kuratorin und Autorin und lebt in Lissabon, Portugal. Sie hat diesen Text auf Englisch verfasst.

Übersetzung ins Deutsche: Elka Parveva Kern.

 

Quellen

Anne Uddenberg Zitat
Lauter, Devorah. "Anna Uddenberg’s Body-Twisting Sculptures Probe—and Breach—the Limits of Femininity and Reality." Artnet News, January 2, 2024.
https://news.artnet.com/art-world/anna-uddenberg-up-next-2414762

Bryony Stone Quote über Dozie Kanu und Dozie Kanu's Conversation
Stone, Bryony. "The Young Artist Working at the Intersection of Industrial Design and Art." AnOther Magazine, October 5, 2018.
https://www.anothermag.com/art-photography/11234/the-young-artist-working-at-the-intersection-of-industrial-design-and-art

Anemone Vostell zu MK Kaehne
Vostell, Anemone. “Eine retroaktive Künstlermonographie im DCV-Verlag.” August 15, 2024. https://anemone-vostell.com/2024/08/15/mk-kaehne-p-314159/

Übersetzung

Elka Parveva-Kern

Elka Parveva-Kern unterstützt Sculpture Network seit 2024 als Übersetzerin - eine wunderbare Gelegenheit, ihr langjähriges Interesse an Sprachen und Kunst zu verbinden.

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