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Wenn die Mutter mit der Tochter

Heide (die Mutter) und Susanne (die Tochter) Wagner bespielen die Rathausgalerie in München. Mamma heißt ihre Ausstellung in der über 700 Quadratmeter großen, ehemaligen Kassenhalle des Rathauses in der bayerischen Landeshauptstadt. Der Titel beschreibt das Programm. Die Ausstellung befasst sich mit dem weiblichen Körper, die heutigen Rolle von Müttern und die gesellschaftliche Zuschreibung, die Frauen noch immer erfahren (müssen).

Heide Wagner, Gipsfiguren, 1995 bis 2024
Susanne Wagner, Mamma, 2024, 700 bemalte Gipskugeln
Die, Anfang des 20. Jahrhunderts von Georg von Hauberrisser entworfene Halle der städtischen Hauptkasse im neugotischen Rathaus war einst eine zentrale Anlaufstelle vieler Münchnerinnen und Münchner. Hier konnten Steuern und Gebühren bis in die 1970er-Jahre bar bezahlt werden. In ihrer Mitte steht ein neobarocker, von einem unbekannten Bildhauer aus Adneter Marmor geschaffene Brunnen. Er ist bis zum Überlaufen vollgestopft mit 700 aus Gips gegossenen und bunt bemalten Kugeln und sieht aus wie eine riesige, mit Zucker-, Honig-, Wasser- oder Netzmelonengefüllte Obstschale. Die – auf einen ersten Blick – wie Früchte wirkenden Kugeln sind weibliche Brüste. Nippelalarm im Paradiesgarten? Ein Beitrag zur aktuellen Entblößung oder Verhüllung der weiblichen Brust? Die aus dem Brunnen herausquellenden und am Boden liegenden weiblichen Brustformen thematisieren nicht nur den Körper der Frau, sie zielen auf eine (Neu-) Bewertung gängiger Geschlechtermuster ab.  Sie geben das Thema der Ausstellung der beiden Bildhauerinnen vor. Das lateinische Wort „mamma“ ist ein medizinischer Begriff für die weibliche Brust. In dieser gemeinsamen Ausstellung von Mutter und Tochter sind die Fokussierung auf das Weibliche offensichtlich.
Heide Wagner, Gipsfiguren, 1995 bis 2024
Heide Wagner, Gipsfiguren, 1995 bis 2024

Heide Wagner (geboren 1944) zeigt – dicht gedrängt – auf einem leicht erhöhten Sockel in den letzten drei Jahrzehnten entstandene figürliche Arbeiten aus Gips: Menschen oder Tieren nachempfundene Kreaturen in unterschiedlichen Erscheinungen. Neben der künstlerischen und formalen Auseinandersetzung mit der menschlichen oder tierischen Anatomie stehen architektonische Scheingebilde in einer gegenständlichen Alltags- und Lebenswelt nebeneinander.

Susanne Wagner, Widmung, 2024, Puppe mit Brautkleid
Susanne Wagner, Widmung, 2024, Puppe mit Brautkleid
Ganz anders die Arbeiten der Tochter; 1977 geboren. Neben der 2024 entstandenen Installation Mamma steht Susanne Wagners ebenfalls 2024 entstandenes Objekt Widmung im Mittelpunkt der Ausstellung: eine Puppe in einem weißen Brautkleid mit einer 20 Meter langen Schleppe aus gebrauchten Kleidungsstücken – Dessous, Gardinen und Bettwäsche; ein Patchwork aus gebrauchten Textilien. Die Braut steht mit dem Rücken zu den Betrachter:innen vor einer geschlossenen Tür. Das Ende der riesigen Schleppe ist offen. Will sie gehen? Was geschah oder noch geschehen wird, bleibt im Verborgenen: häusliche Gewalt, sexuelle Übergriffe? Ähnlich auch ihre Videoarbeit The Sadness of Marilyn, die sich mit Marilyn Monroes über einem U-Bahn-Schacht hochgewehtem Rock aus dem Jahr 1954 beschäftigt. In dem kurzen Film trägt „Marilyn“ ein Kleid aus Folie und Gips, das über Nylonfäden gehalten wird. Nach und nach durchschneiden große Scheren die Fäden. Am Ende steht die Frau mitten in einem Scherbenhaufen.

Susanne Wagner, The Sadness of Marilyn, Videoarbeit
Susanne Wagner, The Sadness of Marilyn, Videoarbeit
Beide Künstlerinnen, so unterschiedlich ihre Herangehensweise auch ist, arbeiten nach dem Grundsatz: Die Form muss stimmen. Beide gehen experimentell mit Materialien und Medien um. Heide Wagner trägt in ihren Plastiken verschiedene Materialien – Stoff, Karton, Zeitung und Gips – Schicht für Schicht auf, bis sie mit der Form zufrieden ist. Susanne Wagner erfindet für jede Arbeit eine eigene handwerkliche Strategie, um ihre Idee in Form zu bringen. Beide Bildhauerinnen arbeiten raumgreifend, sind weit entfernt von der Strenge eines meist von Männern dominierten Minimalismus und rücken die Rolle der Frau im 21. Jahrhundert in den Mittelpunkt.

 

Die Ausstellung Mamma ist bis Sonntag, 27. April, Dienstag bis Samstag von 13 bis 19 Uhr und am Sonntag von 11 bis 19 Uhr in der Rathausgalerie, Marienplatz 8, zu besichtigen. Der Eintritt ist frei.

 

Willy Hafner verfasste diesen Artikel auf Deutsch.

Über den Autor/ die Autorin

Willy Hafner

Willy Hafner ist Münchner Kunsthistoriker und organisierte 2019 zusammen mit Eva Wolf und Angelika Hein das erste und zweite Sculpture Network Lab. Seitdem berichtet er für uns von spannenden Skulptur-Projekten in Deutschland und darüber hinaus. Er ist Mitglied des Patronatskomitees des Centro Internazionale di Scultura und hilft, die kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung des Projektes zu unterstreichen.

Übersetzung

Elka Parveva-Kern

Elka Parveva-Kern unterstützt Sculpture Network seit 2024 als Übersetzerin - eine wunderbare Gelegenheit, ihr langjähriges Interesse an Sprachen und Kunst zu verbinden.

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