Exhibition view Sung Tieu: Without Full Disclosure. MGKSiegen 2024, Courtesy Sung Tieu, Emalin, London, Sfeir-Semler, Hamburg/Beirut und Trautwein Herleth, Berlin, Photo: Philipp Ottendörfer
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Sculpting the Uncertain: Sung Tieu komprimiert globale Ungewissheit auf Faustgröße.

Noch bis zum 10. November 2024 ist Without Full Disclosure im Museum für Gegenwartskunst Siegen seh- und hörbar. Dort stellt Sung Tieu wichtige Fragen an eine vermeintlich moderne Gesellschaft. Genauso wenig, wie es „die eine Antwort“ gibt, legt sie sich dabei auf das eine Medium fest, führt jedoch gekonnt alle Fäden durch ein Öhr.

 

Ein Überblick.

Without Full Disclosure vereint ältere sowie jüngst und eigens hierfür gefertigte Arbeiten der 9. Rubensförderpreisträgerin der Stadt Siegen, Sung Tieu, per Einzelausstellung zu einer atmosphärischen Gesamtkomposition. Sachlichkeit und Schema, gleichwohl aber Unklarheit und Zerstreuung werden hier wie die Enden zweier Senkel miteinander zu verschlingen gesucht.

Wie bereits die bearbeiteten Themenstränge, so gestaltet sich auch Tieus Wahl ihrer Darstellungs- und Wiedergabeformen facettenreich. Flachware, Fundstücke, Alltags- und Einrichtungsgegenstände werden feinmaschig mit Projektion und Sound verknüpft. Hierdurch gelingt es der Künstlerin, minimalistische Räume zu schaffen, welche durch Klänge wiederum selbst zu eigenständigen skulpturalen Gefügen erwachsen.

So wird neben der visuellen Adaption der Betrachtenden – viel eher sogar – das Gehör zum Transportmittel komplexer Zusammenhänge.

Bleibt die Quelle unbekannter Klänge ungewiss, können diese umso intensiver auf uns wirken. Diesen Umstand macht sich Tieu zu Nutze.

Und überhaupt überlässt sie nichts dem Zufall.

Der tatsächlichen Vollendung ihrer künstlerischen Prozesse gehen minutiöse Recherche und Forschung voran. Die verwendeten Materialien sowie deren Verarbeitung und schlussendliche Präsentation unterliegen höchsten Qualitätsansprüchen – alles wirkt bereits durch sich selbst, hinzu kommen theoretische Hintergründe, die wiederum äußerst selten selbsterklärend daherkommen. Ein genaueres Hinschauen wird (zurecht) vorausgesetzt.

Um Tieus Arbeiten in Kontext zu setzen, lohnt sich einerseits ein Blick auf ihre biografischen Eckdaten, andererseits auf jene Themenkomplexe, welche die in Siegen gezeigte Sonderausstellung tragen.

Sung Tieu (*1987 in Hải Dương, Vietnam, lebt und arbeitet in Berlin) wurde durch Arbeiten bekannt, die ihre eigene Migrationserfahrung nach der Wendezeit reflektieren.
Im Alter von fünf Jahren folgt sie ihrem in der DDR als sog. Vertragsarbeiter tätigen Vater in das wiedervereinigte Deutschland. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich die Künstlerin mit Fragen nach gesellschaftlicher Verantwortung und den Auswirkungen bürokratischer Machtstrukturen sowie sozialer Kontrolle auf das Individuum. Sie untersucht die globalen Verflechtungen von Kolonialismus und Kaltem Krieg.
Im Fokus stehen kritische Infrastrukturen, die darüber entscheiden, wer und was sichtbar wird (oder eben nicht).

Speziell in Without Full Disclosure behandeln über 50 Werke über elf Räume verteilt den Einfluss der französischen Kolonialisierung auf kulturelle Standards in Vietnam, den Einsatz psychologischer und akustischer Waffen in Militäroperationen, bis hin zur Entwicklung von Energieinfrastrukturen.

Eine zentrale Rolle spielen außerdem ihre aktuellen Auseinandersetzungen mit den Risiken des Hydraulic Fracturing (Fracking) in den USA und ihre Recherchen zu potenziellen Schiefergasfördergebieten in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen.

Wir gehen rein.

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Reverberations, 2023, 6 Stahlrohre mit Sound, Lautsprecher, Verstärker, Maße variabel, Courtesy Sung Tieu. Foto: Sebastian Kirschner
Am Boden liegende Stahlrohre, schwerfällig ruhend, wie unmittelbar aus der Maschine gelaufen, bilden das Kernstück der ersten beiden Ausstellungsräume und verbinden diese miteinander. Zwischen ihnen zwei Schaukelstühle, ein Schaukelpferd – als hätten Mutter und Kind gerade noch die milde Sommerbrise auf der Veranda genossen. Aus den Rohren ertönt ein waberndes Dröhnen, gespickt mit unregelmäßigem, tieftönigem Glucksen. Als fände man sich in einer Art unterirdisch-mystischen Industrielandschaft wieder, weckt diese Installation gleichwohl Neugierde als auch das Gefühl, hier nichts verloren zu haben.

Diese Klänge bleiben für gewöhnlich tatsächlich im Verborgenen. Es handelt sich dabei nämlich um Sounds, die mithilfe eines Kontaktmikrofons dem Erdreich verschiedener Fracking-Gebiete in Pennsylvania und West Virginia (US) enthoben wurden.
Sequenzen hieraus werden über sechs Lautsprecher abgespielt, welche im Innern der Rohre montiert sind und diese so als Resonanzkörper nutzen, bevor die drei unterschiedlichen Sound-Loops sich im Raum vereinen und dieser – nein, letztlich das gesamte Museum – als „Resonanz-Resonanzkörper“ fungiert.

Auch der weitere Verlauf des noch Kommenden kündigt sich bereits akustisch an. Man kann ein hochfrequentes Rauschen, Ticken, fast schon Zirpen wahrnehmen. Dazu ab und an den tiefen, langgestreckten Ton einer Glocke.

Das unbehaglich-aufdringliche „Zirpen“ entspringt einer unscheinbaren Wandinstallation. In einem Durchgangsbereich präsentiert, hält man sie auf den ersten Blick womöglich für schnödes Interieur, doch handelt es sich hierbei um die Arbeit Protective Cover (Headache). Eine stählerne Heizkörperabdeckung fügt sich unauffällig in das sachliche Raumgefüge ein, hat es jedoch in sich.
Ein darin verborgener Lautsprecher gibt besagte Frequenzen von sich und spielt auf das sog. Havanna-Syndrom an, welches uns zu einem späteren Zeitpunkt des Rundgangs noch eindringlicher beschäftigen wird.

Doch bis dahin leitet unser Gehör uns zunächst weiter in den nächsten Raum.
Eine Videoprojektion in Schwarz-Weiß, eine Bank gegenüber in nur Weiß: sagt das Auge – welches wir an dieser Stelle nicht vernachlässigen wollen.

Zu sehen sind Aufnahmen eines Waldes in Bạch Mã, Zentralvietnam. Eines einst mit Agent Orange und Napalm zugrunde gerichteten Waldes. Überleben durften das wenige, der Wald jedoch, und auch westliche Schönheitsideale von heller, „makelloser“ Haut.        
         

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Memory Dispute, 2017, HD-Video mit Sound, 22:42 min., Courtesy Sung Tieu. Foto: Sebastian Kirschner
Kolonialisierung, Imperialismus, das Sich-zu-Eigen-machen, legen sich wie ein halbtransparentes Tuch, ein aufdringlich-unaufdringliches Hintergrundrauschen über diese Ausstellung. Ja: Kunst kann und darf und muss politisch sein.

Was wir uns hier anschauen (und -hören) ist die Arbeit Beauty Standards. Aufnahmen besagten Waldes werden der Dokumentation eines Verfahrens gegenübergestellt, welches darauf abzielt, die Haut eines Menschen „aufzuhellen“. Hierfür wird eine – nur auf dem Schwarzmarkt erhältliche – Mixtur verschiedener Chemikalien (Inhaltsstoffe unbekannt) auf die Haut gegeben. Wie nach einem starken Sonnenbrand löst sich daraufhin die oberste („dunklere“) Hautschicht, die darunter liegende („hellere“) kommt zum Vorschein.

Offenbart wird uns hier vielleicht auch, wo der zuvor erwähnte Glockenschlag seinen Ursprung findet.

Wir gehen weiterhin den Klängen nach und finden uns in einem langgestreckten Raum wieder. Ein hohes Fiepen, ein anschwellendes Dröhnen, die eindringliche Stimme einer amerikanischen Nachrichtensprecherin.
Großformatige Bildschirme an den Wänden thematisieren in reißerischer Privatsender-Manier akustische Kriegsführung, Ideologien und Grenzen.

Zentral: das als „Havanna-Syndrome“ bekannt gewordene Phänomen – erstmals 2016 in Havanna, Kuba aufgetreten. Als Folge eines plötzlich auftretenden Klangereignisses klagten damals zunächst Teile des Personals der US-amerikanischen und etwas später der kanadischen Botschaft in Havanna über starke physische und psychische Symptome, wie Kopfschmerzen, Schwindel, Schlaflosigkeit und Gedächtnisstörungen.

Seitdem wurden weltweit einige weitere Fälle bekannt. 1.500 davon wurden laut US-Geheimdiensten bis Januar 2022 untersucht. Erste Fälle könnte es bereits 2014 im US-Konsulat in Frankfurt am Main gegeben haben. Eine Klärung über Tatsächlichkeit und Ursache gab es nicht – die Untersuchungen wurden eingestellt.

Eine Rekonstruktion dieses „plötzlichen Klangereignisses“ können wir in diesem Raum erfahren. 

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Protective Cover (Tinnitus), 2022, Soundinstallation, polyesterpulverbeschichteter Stahl, wandmontierte Abdeckung, manipulationssichere Schrauben, Lautsprecher, 90 × 110 × 20 cm, Sound im Loop, Courtesy Sung Tieu und Emalin, London. Foto: Sebastian Kirschner
Die Arbeit Protective Cover (Tinnitus) setzt uns dem oben zur Sprache gezerrten „Fiepen“ aus. Optisch gleich zur ersten ergänzt die zweite Heizkörperabdeckung die vorherige, indem sie klanglich noch unangenehmer daherkommt. Hohe, sich in höhere und noch höhere Frequenzen schraubende Töne drängen sich uns hier unweigerlich und rauschend bis klirrend auf.

Thematisch bleiben wir bei psychologischer (in Form akustischer) Kriegsführung und setzen uns abschließend auf die Bank, an der wir im Laufe dieses Artikels unachtsam vorbeigingen.

Verzerrte Stimmen dringen hervor, während eine monochrome, negativ-invertierte Videoprojektion (No Gods, No Masters) hauptsächlich Tieu und ihre Familie dabei zeigt, wie via traditioneller Seance Kontakt zu einer verstorbenen Ahnin gesucht wird.

Sung Tieu: No Gods No Masters, 2017. Courtesy Sung Tieu und Galerie Sfeir-Semler, Hamburg. Foto: Sebastian Kirschner
No Gods, No Masters, 2017, Courtesy Sung Tieu und Galerie Sfeir-Semler, Hamburg. Foto: Sebastian Kirschner
Was wir sehen, spiegelt Spiritualität wider, was wir hören, greift das „ghost tape no. 10“ auf, welches eben jene als Schwachpunkt des Gegners militärisch nutzen wollten – eine nicht nur vermeintliche, sondern ganz tatsächliche „sonic weapon“.

Während des Vietnamkrieges wurde besagt-berüchtigtes Tape aus Helikoptern der US-Forces abgespielt, um gegnerische Einheiten zu demoralisieren. Zu hören waren darauf traditionelle buddhistische Bestattungsmusik sowie verzerrte Stimmen, die ihren Mitstreiter*innen nahelegten, lieber aufzugeben, um nicht als umherirrende Seelen zu enden, wie sie.

Die in der vietnamesischen Bevölkerung gepflegte Tradition, Verstorbene zurück an ihren Heimatort zu bringen, um einem ziellosen Umherirren ihrer Seelen entgegenzuwirken, sollte damit gezielt negativ getriggert werden.

Wir gehen raus.

Wer durch diesen kleinen (ja!) Ausblick Interesse an Sung Tieus Werk schöpfen konnte, ist herzlich eingeladen, ihre Arbeit einmal en detail zu erleben.

Without Full Disclosure bietet hierfür eine gute Gelegenheit, doch wird es ganz bestimmt noch lange nicht die letzte gewesen sein.

Was wir hier erleben, ist eine Zusammenführung ungewisser Realitäten, kombiniert mit persönlichen Erfahrungswerten – komprimiert zu einem Kunstgriff – in Tieus Faust findet sich wieder, was doch eher im Verborgenen stattfindet und zwischen Realität und Zerstreuung verschwimmt.

 

Diesen Artikel verfasste Sebastian Kirschner auf Deutsch. 

Über den Autor/ die Autorin

Sebastian Kirschner

Sebastian Kirschner arbeitet als Ausstellungsbauer und Stagehand in Siegen (NRW) und Umgebung. Das Privileg, Künstler*innen und deren Arbeit hinter den Kulissen begegnen zu können, nutzt er und teilt diese Perspektive mit uns in seinen Artikeln.

Übersetzung

Sybille Hayek

Sybille Hayek ist Lektorin und Übersetzerin. Seit 2022 unterstützt sie unser Team ehrenamtlich mit ihrem geschulten Blick fürs Detail und einer großen Liebe zur Sprache.

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