Videostill from the work Beyond the Glacier © Jakob Kudsk Steeensen.jpg
Magazin

Jenseits des Gletschers / Jakob Kudsk Steensen

Eine digitale Hymne an die Eishöhle von Arolla

„Mein Brustkorb zerbarst wie ein gläserner Gegenstand und ein Teil meiner Sprache ging verloren”
Vor einem Jahr waren die Arbeiten von Jakob Kudsk Steensen (geb. 1987 in Dänemark) während der Skulpturenausstellung Paradys auf dem Landgut Oranjewoud (Friesland, Niederlande) zu sehen. Vor kurzem lud das Teylers Museum, gegründet im Jahr 1784 und damit das älteste Museum der Niederlande, den dänischen Videokünstler ein, zwei spektakuläre Videoinstallationen zu zeigen, die sich mit der Existenz und dem Kollaps einer der berühmtesten Eishöhlen der Schweiz beschäftigen: der Höhle von Arolla.

Jakob Kudsk Steensen at Teylers Museum © photo Gerrit Jan Hoogland
Jakob Kudsk Steensen at Teylers Museum © photo Gerrit Jan Hoogland
Kudsk Steensens kraftvolle und faszinierende visuelle Installationen lassen die Besucher erleben, wie es sich anfühlt, in einer solch unzugänglichen Umgebung und in Höhlen herumzuwandern, in denen die Spuren des Verschwindens der Landschaft als Folge des Klimawandels deutlich zu erkennen sind.

Der Arollagletscher

Jakob Kudsk Steensen war beim Eröffnungsempfang im Teylers Museum anwesend und war bereit, einige Fragen zu beantworten. Die Sammlung des Teylers Museums umfasst viele bedeutende Bücher, Fossilien und Mineralien zur Erforschung der Gletscher in den Schweizer Alpen. Ein Reisetagebuch aus dem 19. Jahrhundert mit Illustrationen von J. D. Forbes, die den Arollagletscher zeigen, liefert eine interessante Perspektive auf die künstlerischen Beobachtungen von Kudsk Steensen. Für seine Videoinstallation Beyond the Glacier (Jenseits des Gletschers) verwendete er Texte aus dieser Illustration. Seine atemberaubenden digitalen Landschaften basieren oft auf natürlichen Landschaften, Landschaften, die bereits verschwunden sind oder sich aufgrund des Klimawandels radikal zu verändern drohen. Die Installation Beyond the Glacier besteht aus zwei Videos und dokumentiert die Geschichte einer Gletscherhöhle in den Bergen von Arolla in der südlichen Schweiz. Kudsk Steensen besuchte die Höhle im Frühjahr 2022 und erstellte detaillierte digitale Scans des Gletschers, der Pflanzen, der verschiedenen geologischen Schichten und von wundersamen Mikroorganismen. Im September 2022, neun Monate nach dem ersten Besuch des Künstlers, bricht die Höhle von Arolla vollständig in sich zusammen. Für die jüngere Generation wird dies zur Realität, nicht zu wissen, dass es hier früher eine riesige Eishöhle gab: ein weiterer Grundpfeiler, der so nicht mehr besteht.

Sie verwenden 3D-Animation, Ton und digitale Technologien fĂĽr Ihre Videoinstallationen, doch welche Basis liegt ihren Installationen zugrunde?
„Die Grundlage sind die 2.000 digitalen Fotos der Höhle, die ich im Frühjahr 2022 mit meiner Kamera mit Photogrammetrie, einer neuen Art der 3D-Fotografie, gemacht habe. Zurück im Studio habe ich dann ein 3D-Video-Modell erstellt, das ich später in ein Videospiel übernommen habe. So wurde das Kunstwerk zu einer Art Videospiel. Die Spieletechnologie gibt mir die Möglichkeit, völlig neue Umgebungen zu schaffen. In diesen Umgebungen kann ich mich mit meinem Körper frei bewegen und hinein- und herauszoomen. Es ist also eine Art Spiel mit der Metaphysik und meinem Körper im Verhältnis zur Umgebung.”

Die Zungen des Eises
Eine der gezeigten Videoarbeiten, Tongues of Verglas (Die Zungen des Eises), wurde auch im Kopenhagen Contemporary während der Ausstellung Yet, it moves! gezeigt. In Tongues of Verglas schwebt der Betrachter langsam virtuell durch die Eishöhle. Die Besucher sehen die raue Rinde von Zirbelkiefern durch die Luft schweben und nehmen mikroskopisch kleine Flechten wahr. Die Höhle ist halbtransparent, so dass man durch sie hindurchsehen und den Gletscher dahinter erkennen kann.

Ist es denn nicht fast so, als würde man durch eine Kathedrale gehen, mit diesen hallenden Klängen und dem Gesang dunkler Stimmen, so wie man sie aus den Chören von Arvo Pärt kennt?
„Mein Ziel war es, eine Art Ritual zu schaffen, in das die Besucher eintauchen: Man hört das Geräusch des knackenden Eises, fallende Wassertropfen, man hört seltsame Klänge und dunkle Stimmen, die in einem hohen Raum singen und all das wird von Bildern begleitet. Die Musik stammt von dem Komponisten Lugh O'Neill. Normalerweise schreibe ich im Vorfeld ein Tonskript: ‚hier soll Gesang zu hören sein, dort ein Geräusch, und hier möchte ich das Knacken des Eises hören’. Wenn man durch die beiden Ausstellungsräume geht, in denen die Videoinstallationen zu sehen sind, betrachtet man eigentlich kein Kunstwerk, sondern man bewegt sich durch das Kunstwerk hindurch, und es wird zu einem selbst.”

Hat es Sie getroffen, als Sie erfuhren, dass die Höhle neun Monate nach Ihren Aufnahmen in sich zusammengestürzt ist?
„In einem Interview mit mir, das aufgezeichnet wurde und das hier im Museum zu sehen ist, habe ich diesen Satz benutzt: ‚Mein Brustkorb zerbarst wie ein gläserner Gegenstand und ein Teil meiner Sprache ging verloren’. Ich hoffe, dass die Menschen nach dem Besuch der Ausstellung mehr Bewusstsein für ihre Umwelt haben und dafür, wie wir diese langsam zerstören.”

In der Pressemitteilung war zu lesen, dass diese Ausstellung zeigt, wie die Veränderung unseres Planeten durch den Klimawandel letztendlich eine tiefgreifende Veränderung in uns selbst hervorrufen wird. Beunruhigt Sie das?
„Nun, es gab früher schon Eiszeiten und auch Wärmeperioden, und ich sehe den Klimawandel einfach als ein natürliches Phänomen. Es macht mich nicht traurig oder schwermütig; ich betrachte es eher aus der Sicht des Künstlers.”

„Ich konzentriere mich jetzt mehr auf die neue Entstehung von Landschaften”

 

Beyond The Glacier, photo Cassander Eeftinck Schattenkerk
Jakob Kudsk Steensen: Beyond The Glacier. Photo: Cassander Eeftinck Schattenkerk

Der temporäre See und das Paradies
Nachdem sich Kudsk Steensen in seiner Arbeit bisher vor allem mit verschwindenden Landschaften beschäftigt hat, konzentriert er sich nun auf neu entstehende Naturphänomene, wie z. B. neu entstehende Seen. Sein neuestes Werk wird im April in der Kunsthalle Hamburg unter dem Ausstellungstitel The Ephemeral Lake (Der temporäre See) zu sehen sein. Inspiriert von Caspar David Friedrich, untersucht Kudsk Steensen in seiner aktuellen Serie das eindrucksvolle Naturphänomen dieser neu entstehenden temporären Seen. Ein geologischer Terminus, der die Bildung von periodisch auftretenden Wasseransammlungen in trockenen, kargen, oft wüstenartigen Landschaften beschreibt. Komplett gesteuert von KI und begleitet von Musik und Aufnahmen von Umweltgeräuschen, hat Kudsk Steensen eine spektakuläre interaktive Reise für die Besucher geschaffen.
Vor etwa einem Jahr präsentierte Kudsk Steensen während der Veranstaltung Paradys (Paradies) in Friesland, Niederlande, das beeindruckende VR-Video Re-Animated auf dem Anwesen von Oranjewoud. Im Zentrum der Installation stand der Kauaʻiʻōʻō, ein Vogel, der ursprünglich auf der hawaiianischen Insel Kauai lebte und um 1987 ausgestorben ist. Der Kauaʻiʻōʻō lebt jedoch noch immer in unserer Vorstellung weiter, wegen seines Balzrufs, den ein Biologe 1987 aufgenommen hat und der im Jahr 2009 auf YouTube geladen wurde. 

Teylers Museum Beyond Glacier, Jakob Kudsk Steensen
17. November 2023 bis 3. März 2024

Voorbij de gletsjer

The Ephemeral Lake, Kunsthalle

Ăśber den Autor/ die Autorin

Etienne Boileau

Etienne Boileau ist ein in Rotterdam lebender Journalist und Autor.

Ăśbersetzung

Sybille Hayek

Sybille Hayek ist Lektorin und Ăśbersetzerin. Seit 2022 unterstĂĽtzt sie unser Team ehrenamtlich mit ihrem geschulten Blick fĂĽrs Detail und einer groĂźen Liebe zur Sprache.

Galerie

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