Feuer, Nebel, Licht & Elektrizität
Skulptur muss nicht für die Ewigkeit sein. Elo Liiv (EE) und Judith Mann (DE) zeigen das Potenzial flüchtiger Materialien, das diese für die Schaffung von Skulpturen besitzen.
Am Montag, 10. Mai 2021 fand per Zoom ein Gespräch mit den interdisziplinären Künstlerinnen Elo Liiv und Judith Mann statt, das von der Sculpture Network Koordinatorin Anne Berk moderiert wurde. Sie waren eingeladen, über ihre Arbeit und die Möglichkeit zu diskutieren, Skulpturen mit flüchtigen Medien wie Feuer und Licht zu schaffen. Beide Künstlerinnen verbinden Wissenschaft und Kunst und fordern die Definition von Skulptur heraus, indem sie neue Wege des Denkens über deren Grenzen betreten. Indem sie innovative Konzepte und Techniken verwenden, eröffnen sie einen neuen Bereich künstlerischen Schaffens.
Über Elo Liiv
Elo Liiv ist eine interdisziplinäre Künstlerin aus Estland, die an der Schnittstelle von Licht, Skulptur und Installation arbeitet. Als „Lichtbotschafterin“ Estlands hat sie viele ortsgebundene Lichtinstallationen geschaffen und Lichtfestivals organisiert. Ihr Interesse gilt den flüchtigen Eigenschaften des Lichts sowie dessen Einfluss auf andere Medien. In ihren ortsgebundenen Installationen beobachtet sie im Detail das Verhalten von Licht auf physische Werke, wie z.B. in Ports (2016) und Title Pattern (2017; 2019).
Andererseits nutzt sie Licht als eigenständiges Kunstmedium und spielt in Licht-Mappings und interaktiven Installationen wie What's here is there (2019) und The Study of Sight (2015—heute) mit seinen vielseitigen Eigenschaften. Auf einer zweiten Ebene, vor ihrem Hintergrund in Anthropologie, zielt ihre Arbeit darauf ab, soziale Themen anzusprechen und ein Bewusstsein für diese zu schaffen.
Eine ihrer beeindruckendsten interaktiven Installationen ist The Study of Sight (2015—heute), die 2017 in der Tallinner Kunsthalle präsentiert wurde. Die Installation lud blinde Menschen ein, mit dieser zu interagieren und das Thema „soziale Blindheit“ in den Fokus zu rücken. Das zentrale Element der Installation war ein beleuchteter menschlicher Kopf, der das sehende Publikum fast zu sehr blendete, um ihn direkt ansehen zu können. Die Fragen, die sich daraus ergaben, sind: Brauchen wir Augen zum Sehen? Kann ein sehender Mensch besser sehen als ein blinder Mensch? Im Kern des Konzepts steht die kritische Annahme, dass man keine Augen braucht, um ein gesellschaftliches kritisches Bewusstsein zu haben.
Eine weitere Werkreihe, die sich mit dem Medium Licht auseinandersetzt, sind ihre Feuerskulpturen wie The Falling Sun (2016) und Opening Up (2016). In ihnen fängt Liiv die Kraft des Augenblicks ein: sie entzündet eine Holzinstallation, die erst mühsam geschaffen werden musste. Liiv sieht den Prozess des Verbrennens als einen Akt der Erlösung oder Katharsis nach dem langen Ritual des Skulpturenbaus.
Über Judith Mann
Judith Mann ist eine Forscherin und multidisziplinäre Künstlerin aus Deutschland, die sich in ihrer Arbeit mit Elektrizität und künstlichem Nebel beschäftigt. Ihr Interesse gilt Naturphänomenen und der Frage, wie bei deren Interpretation und Verständnis Kunst eine Rolle spielen kann.
Nachdem sie eine Tesla-Spule (d.h. eine Maschine, die durch starke elektromagnetische Felder Elektrizität erzeugt) nachgebaut hat, schafft Mann immersive Lichterlebnisse, die mit den Grenzen von Wissenschaft und Kunst spielen. Sie testet gerne die Möglichkeiten des Lichts aus, indem sie es für äußerst kreative Performances einsetzt, wie im Fall des Stavanger Symphony Orchestra in Norwegen (2014), bei dem die Elektrizität der Spule genutzt wurde, um ein von Star Wars inspiriertes Lichtschwert auf der Bühne zum Leuchten zu bringen. Sie hat Strominstallationen in verschiedenen Wissenschaftszentren wie in Wolfsburg (2015) und Heilbronn (2019) ausgestellt.
In ihren Nebelarbeiten interessiert sich Mann für die Art und Weise, wie Nebel unsere Perspektive auf Raum und Zeit verändert. In ihren öffentlichen Interventionen schafft sie Nebellandschaften, die mit ihrer Umgebung interagieren und eine neue Wahrnehmung eines Phänomens eröffnen, das man normalerweise nur in der Natur sieht.
In ihren Außenarbeiten Salix Nebel (2012) und Salix Alba (2013) konstruierte die Künstlerin einen Korridor aus Baumästen auf einer offenen Ebene und integrierte Mechanismen, die künstlichen Nebel erzeugen. Hier liegt der Fokus auf der Beobachtung der Synergie zwischen Natur und Kunst und bewirkt trotz der künstlichen Umgebung das Wachstum der Bäume.
In ihren Indoor-Arbeiten wie Raum aus Luft (2017) geht es Mann darum zu beobachten, wie der menschliche Faktor die Installation beeinflusst, indem sie Menschen einlädt, den Kirchenraum zu durchqueren und in den Nebel einzutauchen, der sich von der Decke herab ausbreitet.
Beide Künstlerinnen präsentieren faszinierende Ansätze zur Kreativität, indem sie die Grenzen der Kunst ausreizen. Ob drinnen oder draußen, sie schaffen vergängliche Kunst, die alle Sinne anspricht und die Menschen zum Mitmachen und Lernen einlädt.
Autorin: Vanessa Souli
Vanessa Souli ist eine in Berlin lebende Kuratorin, Autorin und Künstlerberaterin. Seit 2017 kuratiert sie in Berlin und international Ausstellungen. Zudem schreibt sie für etablierte Kunstmagazine. Kürzlich entwickelte sie das A-to-Z-Coaching-Programm, ein komplettes Karrieretrainingsprogramm exklusiv für bildende Künstler*innen. Zu ihren aktuellen kuratorischen Interessen gehören das Zeitalter des „Anthropozäns“ und der Einfluss des Menschen auf die Umwelt.
Titelbild: Judith Mann, TESLA, Nachts im Labor, Science Center Heilbronn, 2019