Sex and the Sculptor
Wenn ich in London bin, schaue ich immer gerne in der Saatchi Gallery vorbei, um einen tiefen Zug der von Erdölgeruch erfüllten Luft einzuatmen und um den Ölstand in Richard Wilsons permanenter Installation 20:50 zu checken. Als die Galerie 2011 die Ausstellung The shape of things to come: New sculpture eröffnete, waren meine Erwartungen hoch.
Endlich eine Ausstellung, die nach der Zukunft der Skulptur fragt. Die Künstlerliste enthielt dementsprechend einige hochkarätige Namen, und die Ausstellung an sich war auch nicht schlecht. Aber die Behauptung, die Zukunft der Skulptur abzubilden hat mich entmutigt – waren doch unter zwanzig Bildhauer*innen nur drei Frauen vertreten. Etwa zur gleichen Zeit war in der Royal Academy in London die Ausstellung Modern British Sculpture zu sehen, die eher eine Retrospektive war. Nach Durchsicht der Künstlerliste entschied ich mich allerdings, die Ausstellung nicht anzusehen, da von etwa 120 Bildhauer*innen weniger als 20 Frauen waren. Die Botschaft war klar: es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft für britische Bildhauerinnen.
Academy of Fine Arts in Stockholm 2019
Im April 2011 organisierten Kira Sjöberg, Gründerin und Geschäftsführerin der Galerie ArtShortCut in Helsinki und ich die Guerrilla Girls Nordic Tour. Die Zusammenarbeit mit den Gründerinnen der Guerrilla Girls, – einer Gruppe feministisch aktiver Künstlerinnen aus den USA – die sich selbst Frida Kahlo und Käthe Kollwitz nennen, war ein Privileg. Ihr Kampf gegen das Ungleichgewicht der Geschlechter in der Kunstwelt reicht Jahrzehnte zurück – leider hat sich in der Zeit nicht viel geändert. Ihre Statistiken von 1985 verraten, dass in jenem Jahr genau eine Künstlerin eine Einzelausstellung in einem der großen New Yorker Museen (Guggenheim, Metropolitan, MoMA, Whitney) hatte. Im Jahr 2015, dreißig Jahre später, waren es fünf Frauen. In Schweden führte ich die Guerilla Girls durch die Skulpturenhalle des Göteborger Kunstmuseums und verkündete stolz, dass das Museum zum ersten Mal überhaupt die Werke einer jungen Bildhauerin direkt von ihrer Abschlussausstellung gekauft hatte. Doch in Anwesenheit der Guerilla Girls schien Cajsa von Ziepels überlebensgroße Skulptur Seconds in Ecstasy, die eine junge, spärlich bekleidete Frau an einer Poledance-Stange zeigt, plötzlich nur noch die Hauptfrage der Guerrilla Girls zu bestätigen: "Müssen Frauen nackt sein, um ins Met zu kommen?“
Meinem Wunsch folgend, mehr über die Erfahrungen von Bildhauerinnen in der nordischen Region zu erfahren, und finanziert durch den Nordic Culture Point, initiierte ich ein Forschungs- und Netzwerkprojekt – sculptureHUB. Die damals in London und jetzt in Malmö lebende Kuratorin Sofia Landström und ich hatten bereits zusammengearbeitet, als sie meine Einzelausstellung in der Galleri Picture in Lund kuratierte. Ihr Schwerpunkt auf feministischer Methodik und alternativer Ausstellungsgestaltung passte perfekt zu dem Forschungsprojekt. Ich war begeistert, als sie sich bereit erklärte, mitzumachen. Durch eine Reihe von Gesprächen, Präsentationen und Netzwerkveranstaltungen in den nordischen Ländern wollten wir so viele Informationen wie möglich von Künstlerinnen sammeln, die sich selbst als Bildhauerinnen identifizierten und unabhängig von ihrer Herkunft in der nordischen Region ansässig waren. Die Einführungsveranstaltung fand in Zusammenarbeit mit der von Künstlern geführten Galleri BOX in Göteborg statt. Auf dem Programm standen eine Vorstellung des Projectes sculptureHUB als auch eine Diskussion mit der britischen Bildhauerin Rose Gibbs, die an der reinen Frauen-Skulpturenausstellung Women make sculpture in der Pangolin Gallery in London teilgenommen hatte. Während dieser ersten Präsentation und der anschließenden Diskussion wurde klar, dass eine öffentliche Standardpräsentation mit anschließender Frage- und Antwortrunde nicht optimal war, und wir änderten das Format, um informeller zu sein. Für den Rest des Projekts nannten wir die Präsentationen Netzwerktreffen, bei denen wir kurz den Hintergrund der Forschung und das Projekt sculptureHUB vorstellten, in jeder Stadt Beispiele für den Anteil von Männern und Frauen unten den aktuell ausstellenden Künstler*innen gaben, und zu informellen Diskussionen am runden Tisch übergingen.
sculptureHUB gab uns einen Einblick aus erster Hand, wie Bildhauerinnen ihre aktuelle Situation in der nordischen Kunstwelt wahrnehmen. Es wurde schnell klar, dass die Situation viel komplexer und undurchsichtiger ist als durch das bloße Aufrechnen von in Galerien, Institutionen und öffentlichen Aufträgen vertretener männlicher gegen weiblicher Künstler*innen aufgezeigt wird. In den größeren nordischen Städten liegt der Prozentsatz von Künstlerinnen im Vergleich zu Künstlern immer noch knapp unter 40% zu 60%. Auffällig ist, dass Ausstellungen von Kunsthochschulabsolvent*innen oft dazu beitragen, die ungleiche Geschlechterstatistik auszugleichen – da es mehr weibliche Kunststudenten gibt. Nach Angaben des National Museum of Women in the Arts in Washington D.C./ USA werden 70% der Abschlüsse Bachelor of Fine Arts und 65-75% der Master of Fine Arts von Frauen erreicht. In Großbritannien sind es 64% und 65% für Postgraduiertenstudiengänge und in Australien sind 71% der Absolvent*innen an Kunsthochschulen Frauen. Diese Kunststudentinnen treten nach ihrem Abschluss in eine Kunstwelt ein, in er sie um weniger als 40% der Ausstellungsmöglichkeiten kämpfen müssen. Bei dieser Art von Verdrängungswettbewerb ist es nicht überraschend, dass die wenigen Frauen, die das Privileg haben, in der Kunstwelt mitmischen zu können, wenig Interesse an sculptureHUB bekundeten und sich der Tatsache, dass das Geschlecht etwas mit Ausgrenzung zu tun hat, gar nicht bewusst waren. Stattdessen wurde oft die Auffassung vertreten, die Ausgrenzung habe mit der schlechten Qualität der Arbeit zu tun. Diese nicht ungewöhnliche Haltung erzeugt eine Kultur des Schweigens unter den ausgeschlossenen Künstlerinnen – die öffentliche Behauptung, aufgrund des Geschlechts übergangen zu werden, könnte zum Stigmata werden – als Künstlerinnen, deren Arbeit qualitativ minderwertig ist, oder als verbitterte Emanzen. Beides Stigmata, die ihre Möglichkeiten weiter einschränken würden.
Academy of Fine Arts in Stockholm 2019
Bei den Treffen von sculptureHUB fand sich bald ein Muster: Was zunächst als Forum für Diskussion und Erfahrungsaustausch zum Thema geschlechtsspezifische Ungleichheit begann, weitete sich schließlich aus. Wir begannen, über die Bildhauerei im Allgemeinen zu sprechen. Darüber, was es bedeutet, sich heute als Bildhauer*inn zu bezeichnen, über öffentliche Aufträge, Skulptur vs. Installation, Materialien, Skulptur und Performance usw. Es überrascht nicht, dass Bildhauerinnen, genau wie ihre männlichen Kollegen, eigentlich viel lieber Zeit damit verbringen, über Bildhauerei zu sprechen – aber Frauen müssen erst ein paar Hürden überwinden, um an diesen Punkt zu kommen.
Zu Beginn war das langfristige Ziel von sculptureHUB, eine Gruppenausstellung mit nordischen Bildhauerinnen zu organisieren. Im Projektverlauf wurde jedoch deutlich, dass die größere Ungleichheit darin bestand, dass die Möglichkeit für Bildhauerinnen, sich allein zu betätigen, sehr begrenzt sind. Tatsächlich zögern Ausstellungsorte oft nicht, eine Gruppenausstellungen nur mit Frauen zu organisieren . Diese ziehen häufig ein großes Publikum an und finden ein dementsprechend großes Medienecho. Auch wenn in einer Gruppenausstellung mehrheitlich Frauen ausstellen, scheint dies akzeptabel zu sein. Wenn es aber darum geht, Einzelausstellungen mit Künstlerinnen zu organisieren, ist das eine andere Geschichte, wie die Guerilla Girls in ihren eingangs bereits erwähnten Untersuchungen von 1985 und 2015 schon gut illustriert haben. Eine Einzelausstellung veranstalten zu können, ist für die Karriere eines Künstlers bzw. einer Künstlerin entscheidend – die Bedeutung kann nicht zu hoch genug eingeschätzt werden. Zudem schaffen sie aber auch Sichtbarkeit und Öffentlichkeit, wichtige Faktoren für den weiteren Erfolg. Die Arbeit an einer Einzelausstellung ist für jede*n Künstler*in ein extrem lohnender Prozess. Sie kann als Retrospektive der eigenen Entwicklung dienen, bietet die doch die Gelegenheit, das eigene Werk über mehrere Jahre hinweg betrachten und in Beziehung zueinander zu setzen. Ausserdem bietet sich die Chance neue Werke für einen ganz bestimmten Rahmen und eine ganz bestimmte Situation zu schaffen – oder einfach einen Raum mit einer großformatigen Skulptur völlig einzunehmen.
So dystopisch dieser Text auch klingen mag, so ist vielleicht nicht alles verloren. Im Jahr 2016 widmete das SculptureCenter in Long Island City außerhalb von New York alle Einzelausstellungen des Jahres Künstlerinnen, und im vergangenen Jahr startete das Nationalmuseum in Stockholm unter der Leitung von Linda Hinners, der Kuratorin für Skulptur, ein ehrgeiziges Projekt: Women sculptors – a research project. Ziel ist es, die vielen nordischen Bildhauerinnen sichtbar zu machen, die Ende des 19. Jahrhunderts aktiv waren. Diese Bildhauerinnen waren oft im Ausland ansässig und hatten blühende Karrieren, und wurden trotzdem irgendwie vergessen. Das Projekt, das unter anderem eine Ausstellung, eine Publikation und zahlreiche Interviews mit heute aktiven Bildhauerinnen umfasst, fragt nach Oeuvre, Karriere und Lebensweise dieser Frauen, will aber insbesondere herausfinden, warum sie in Vergessenheit geraten sind. Lassen Sie uns gemeinsam die heute aktiven Bildhauerinnen fördern, ihnen die gleichen Möglichkeiten bieten, die ihre männlichen Kollegen bereits seit langem genießen, und lassen Sie uns sicherstellen, dass die Geschichte uns nicht vergisst!
Über die Autorin
Josefina Posch ist eine international tätige Bildhauerin und Kuratorin. Sie ist ausserdem Gründerin von Snowball Cultural Productions und sculptureHUB, Mitglied des Schwedischen Bildhauerverbandes und Dozentin für Bildende Kunst sowie Studienleiterin für die Oberstufe an der HDK-Valand - Akademie für Kunst und Design der Universität Göteborg.