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Rückkehr zur Philosophie des Embodiment – Ein Interview mit Shezad Dawood

Shezad Dawood arbeitet interdisziplinär mit Malerei, Film, Neon, Skulptur, Performance, virtueller Realität und anderen digitalen Medien, um zentrale Fragen zu Narrativen, Geschichte und Embodiment (das untrennbare Zusammenspiel von Körper, Psyche und Umwelt) zu stellen.
Ich hatte das große Vergnügen, Shezad Dawoods Atelier im Osten Londons zu besuchen, wo ich erfuhr, dass medienübergreifend zu arbeiten eine vollständige Rückkopplungsschleife und eine spannende Methode darstellt, um Bildhauerei im 21. Jahrhundert neu zu denken. Wir sprachen über das Physische und das Metaphysische und erkundeten Shezads Wunsch, die Bildhauerei als dynamisches, lebendiges Medium wiederzubeleben.

Kami Naglik (KN): Lassen Sie uns über den Begriff der Skulptur in Ihrer facettenreichen Praxis und in der heutigen Zeit sprechen. 

Shezad Dawood (SD): Interessanterweise führt uns Bildhauerei aktuell – mit dem Aufkommen verschiedener Technologien – zurück zur Philosophie des Embodiment. Die Idee, dass die Skulptur ihre Form findet, ist sehr alt und geht auf Platon zurück, aber wenn sie auf neue Technologien angewandt wird, macht sie Angst, als ob sie das Ende der Zivilisation ankündigen würde. 

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Kalimpong (Ekai Kawaguchi), 2016, Bronze und Beton 160,3 x 32,4 x 32,9 cm (links) und Kalimpong (Alexandra David-Néel), 2016, Bronze und Beton, 162,1 x 30,3 x 34,3 cm (rechts), Taylor Gallery, London, 16 September – 22 October 2016, Ausstellungsansicht von Kalimpong, Timothy Taylor Gallery, London, 16. September – 22. Oktober 2016

 

KN: Würden Sie die Bildhauerei dann als Medium zur Entfaltung bestimmter Ideen oder Probleme nutzen?

SD: Für mich geht es um poetische Interaktion im Raum zwischen den Dingen. Ich bin genauso besessen von Ideen wie von der Form, deshalb mache ich oft nicht nur eine Skulptur. In zwei Arbeiten in meiner Ausstellung Kalimpong von 2016 erforschte ich das Konzept der Quantenporträtbüsten. Formal bedeutete dies, dass ich Bilder der Porträtierten in verschiedenen Altersstufen kombinierte, wobei ich sowohl 3D-Modellierungssoftware als auch Handarbeit eingesetzt habe. Ich liebe diese „Cyborg-Interaktion“, bei der sich Maschine und Hand ergänzen und fast miteinander tanzen.

Why Depend on Space and Time, 2014. Harz and Metalleffektlack, hölzerner Sockel, 195 x 125 x 125 cm, Ausstellungsansicht von Towards the Possible Film, Parasol Unit, London, 4. April – 25. Mai 2014  Why Depend on Space and Time, 2014. Harz and Metalleffektlack, hölzerner Sockel, 195 x 125 x 125 cm, Ausstellungsansicht von Towards the Possible Film, Parasol Unit, London, 4. April – 25. Mai 2014

Why Depend on Space and Time, 2014. Harz and Metalleffektlack, hölzerner Sockel, 195 x 125 x 125 cm, Ausstellungsansicht von Towards the Possible Film, Parasol Unit, London, 4. April – 25. Mai 2014

 

KN: Das bringt uns zurück zu der Frage des Embodiment. Ein physisches Werk und seine Wiederholungen im digitalen Bereich – sind dies Zugänge, die Sie seither erforscht haben?

SD: Ja, gewiss. Diese beiden Kalimpong-Skulpturen existieren auch in der virtuellen Realität (VR). Ich habe die digitalen 3D-Dateien der Köpfe verwendet, um großformatige, schwebende Hologramme zu erstellen, so dass die Betrachtenden in der VR in ihnen stehen konnten. Auf diese Weise konnte man die inneren Konturen erkennen, die sonst im wirklichen Leben (IRL – In Real Life) nicht zu sehen waren. Bei meiner Ausstellung 2014 in der Parasol Unit (London) habe ich jedoch zum ersten Mal versucht, das 3D-Rendering auf einem Computerbildschirm als tatsächliches Modell für das spätere physische Objekt zu verwenden. Hier hingegen ist die IRL-Skulptur fast zwei Meter hoch. Außerdem gab es eine Reihe von Workshops rund um meine Skulptur Why Depend on Space and Time, bei denen es darum ging, die Arbeit ausschließlich durch Berührung zu erfahren und sich mit der Wahrnehmung und Funktion von Skulpturen auseinanderzusetzen. Letztendlich macht eine wirklich gute Skulptur oft Lust auf ein taktiles Erlebnis.

The Terrarium, 2020. VR, variable Länge, (beinhaltet Teile von Anthropocene Island TAB17 von ecoLogicStudio und Ausschnitte aus The Terrarium Inventory von Graham Fitkin). In Auftrag gegeben von UP Projects for Creative Folkestone Triennial 2021 und Kai Art Center, unterstützt durch CUPIDO, ein Projekt, das von der Europäischen Union, dem Arts Council England und Tallinn Culture Department mitfinanziert wurde. Mit freundlicher Genehmigung der UBIK Productions  The Terrarium, 2020. VR, variable Länge, (beinhaltet Teile von Anthropocene Island TAB17 von ecoLogicStudio und Ausschnitte aus The Terrarium Inventory von Graham Fitkin). In Auftrag gegeben von UP Projects for Creative Folkestone Triennial 2021 und Kai Art Center, unterstützt durch CUPIDO, ein Projekt, das von der Europäischen Union, dem Arts Council England und Tallinn Culture Department mitfinanziert wurde. Mit freundlicher Genehmigung der UBIK Productions

The Terrarium, 2020. VR, variable Länge, (beinhaltet Teile von Anthropocene Island TAB17 von ecoLogicStudio und Ausschnitte aus The Terrarium Inventory von Graham Fitkin), In Auftrag gegeben von UP Projects for Creative Folkestone Triennial 2021 und Kai Art Center, unterstützt durch CUPIDO, ein Projekt, das von der Europäischen Union, dem Arts Council England und Tallinn Culture Department mitfinanziert wurde, Mit freundlicher Genehmigung der UBIK Productions

 

KN: Ist das eine Qualität, die Sie in der VR hervorrufen wollen?

SD: Ja, sowohl Taktilität als auch Empathie. Indem ich zum Beispiel spezielle Gaming-Engines (Strukturen zur Entwicklung von Computerspielen, die den Spielverlauf steuern und für die visuelle Darstellung des Spielablaufes verantwortlich sind) verwende, schaffe ich ein anderes Erfahrungsfeld, das ein neues Publikum anzieht, das sonst nie mit klassischer Skulptur in Berührung gekommen wäre.

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Leviathan, 2017, Harz mit oxidierender Oberflächenbehandlung, 12 x 40 x 5 cm

 

KN: Was die klassische Bildhauerei betrifft, so wird das Werk historisch gesehen eher isoliert betrachtet – zum Beispiel als eigenständige Statue. Ihre Skulpturen scheinen jedoch immer Teil einer größeren Installation zu sein. Können sie für sich allein existieren? 

Virtual Octopi, 2018. Harz und Metalleffektlack, 104.3 x 72.3 x 49.8 cm, Ausstellungsansicht von Leviathan: On Sunspots and Whales, Barakat Contemporary, Seoul, Korea, 1. September – 4. November 2018
Virtual Octopi, 2018. Harz und Metalleffektlack,
104.3 x 72.3 x 49.8 cm, Ausstellungsansicht
von Leviathan: On Sunspots and Whales,
Barakat Contemporary, Seoul, Korea,
1. September – 4. November 2018

SD: Ja. Bald werden Sie von einigen hochkarätigen öffentlichen Skulpturaufträgen hören, aber einige gute Beispiele aus der Vergangenheit sind das Titelstück des Leviathan-Projekts - ironischerweise das kleinste Objekt in einem mehrteiligen Film- und Ausstellungszyklus – oder On Becoming Virtual Octopi. Letzteres ist besonders interessant, da es später die Hauptfigur in meiner VR-Arbeit The Terrarium geworden ist, die derzeit in Folkestone zu sehen ist. Ich übersetzte sie von einer Skulptur in ein Erfahrungsgefühl, das die Betrachtenden beim Navigieren in der VR-Welt verkörpern. Wahrscheinlich können Sie darin eine Weiterentwicklung des Begriffs des Embodiment aus der Kalimpong-Ausstellung sehen. Ich freue mich sehr darauf, der Bildhauerei neue Impulse zu geben. Sie sollte keine statische, traditionelle Praxis sein, sondern dynamisch und lebendig, bei der das Embodiment sowohl ein philosophisches als auch ein pragmatisches Mittel ist.

KN: Zum Schluss: wie steht es mit dem Begriff der Interaktivität oder der Idee, dass die Skulptur eher eine immersive Erfahrung ist? Ist das relevant, wenn es darum geht, die Grenzen des Mediums zu verschieben?

SD: Es geht sowohl darum, wie wir mit der Skulptur interagieren, als auch darum, wieviel Wissen hinter der Skulptur steckt und wie sie mit neuen Entwicklungen in der Welt interagiert.

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Ausstellungsansicht von The Terrarium, Folkestone Triennial, Sassoon Gallery, Folkestone’s Central Library, 22. Juli – 2. November 2021

 

SHEZAD DAWOOD

Shezad Dawood (* 1974, London) lebt und arbeitet in London. Er arbeitet interdisziplinär mit Malerei, Film, Neon, Skulptur, Performance, virtueller Realität und anderen digitalen Medien, um zentrale Fragen zu Narrativ, Geschichte und Embodiment zu stellen. Er nutzt den Prozess des Bearbeitens als eine Methode, um sowohl Bedeutungen als auch Formen zu erforschen. Seine Praxis beinhaltet oft Zusammenarbeit und Wissensaustausch, wobei er verschiedene Zielgruppen und Gemeinschaften abbildet. Er ist fasziniert von dem Esoterischen, dem Fremden, der Umwelt und Architekturen, sowohl materiell als auch virtuell, und verwebt daher Geschichten, Realitäten und Symbolik, um vielschichtige Kunstwerke zu schaffen.

Er wurde am Central St. Martin‘s und am Royal College of Art ausgebildet, bevor er seine Promotion an der Leeds Metropolitan University abschloss. Zu seinen jüngsten Einzelausstellungen gehören: Timothy Taylor, London (2020-21), Kai Art Center, Tallinn (2020), New Art Exchange, Nottingham (2020), The Bluecoat Liverpool (2019), MOCA Toronto (2019); FriezeLIVE, London (2019) und Kunstverein München (2019). Zu den Gruppenausstellungen gehören: Folkestone Triennial (2021), Guggenheim, New York (2021), Southbank Centre, London (2020-21), Boghossian Foundation - Villa Empain (2020), Wiels Brüssel (2020), Manifesta 13 (2020), Lahore Biennial (2020), Dhaka Art Summit (2020), Sharjah Biennial 14, Vereinigte Arabische Emirate (2019) - Jury-Preis für Encroachment. http://shezaddawood.com

KAMI NAGLIK

Shezad Author Kami.JPG

Kami Naglik verfügt über umfangreiche Erfahrungen im institutionellen und privaten Sektor in Europa und den USA, nachdem sie zuvor für Christie‘s, Sotheby‘s, Tate und die Royal Academy of Arts gearbeitet hat. Heute arbeitet sie direkt mit Künstler*innen, Sammler*innen und Philanthrop*innen an kreativen und kommerziellen Strategien, Branding, internationaler Entwicklung und Vertretung.

Übersetzt aus dem Englischen von Andreas Schnietz
Veröffentlicht im Oktober 2021

Titelbild: I’m so in, I see Ravel, 2015. Digitale Animation, 4:52 Min. Mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt von Factum Arte, Madrid

 

 

 

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