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Rising Waters

Im Gespräch mit zwanzig bedeutenden zeitgenössischen Künstler*innen untersucht John K. Grande in seinem Buch "Art, Space, Ecology" die endlose Beziehung zwischen Kunst, Natur und Wissenschaft. Ein Interview mit dem britischen Unterwasser-Künstler Jason deCaires Taylor über den Eingriff des Menschen in die Natur und neue Lebensräume.


Jason deCaires Taylors Skulpturen arbeiten in extremer Weise an einer Neuverortung der Präsenz von Menschlichem. Im Jahr 2006 errichtete er die erste Unterwasserskulptur in der Nähe der Küste von Grenada auf den Westindischen Inseln, die inzwischen von National Geographic als eines der 25 Weltwunder geführt wird. Ein noch ehrgeizigeres Projekt, das MUSA (Museo Subacuático de Arte), wurde in den Gewässern um Cancun, Isla Mujeres und Punta Nizuc ins Leben gerufen. Der Unterwasser-Marinepark von Cancun erstreckt sich über 420 Quadratmeter des Meeresbodens. Dort stehen fest installiert 500 sich ständig weiterentwickelnde Skulpturen von Jason deCaires Taylor. Der Ort und die Skulpturen, die jedes Jahr von über 250.000 Menschen besucht werden, wirken als aktive Katalysatoren beim Wiederaufbau von Korallenriffen und -lebensräumen. Die Kunst fördert Leben! Jason deCaires Taylors Skulpturen fügen sich in die Unterwasserwelt ein – einen Lebensraum, den wir als unzugänglich betrachten, ist er doch weit weg von dem der Menschen. Durch ihre Herstellung, ihre Auswahl als Sujets und die spätere entropische Veränderung bieten sie eine neue Definition der Skulptur, indem sie die unvermeidbare Veränderung ermöglichen und unterstreichen.

Neben dem Parlamentsgebäude in London und an der Themse gelegen befindet sich ein weiteres Projekt Taylors: Rising Waters. Die Skulpturen zeigen Kinder und Geschäftsleute, auf Londoner „Shire-Pferden“, deren Köpfe wie „nodding donkeys“ – also „nickende Esel", der amerikanische Spitzname für Ölpumpen – aussehen. Die Installation hebt die Auswirkungen der Ölindustrie auf die globale Erwärmung hervor. Das jüngste Projekt Nexus befindet sich in Sjoholmen, Norwegen. Hier sind menschliche Figuren wie durch eine Nabelschnur mit dem Meeresboden verbunden. Nexus sendet eine Botschaft aus, während es gleichzeitig Wachstum und Leben unter Wasser fördert.

 
JKG: Es war großartig, Ihre Arbeit aus erster Hand kennenzulernen und zu erleben, Jason. Können Sie mir erzählen, wie Sie begonnen haben, als Bildhauer unter Wasser zu arbeiten?
JdCT: Ich habe 2006 angefangen, unter Wasser zu arbeiten, nachdem ich zuvor am Londoner Kunstinstitut Umweltkunst studiert hatte; nach vielen Jahren fand ich mich auf der Insel Grenada in den Westindischen Inseln wieder, wo ich Tauchen unterrichtete. Je mehr ich mich mit diesem Ort vertraut machte, desto besser verstand ich die ökologischen Herausforderungen, denen man dort gegenüberstand. Eine war die teilweise Zerstörung der Saumkorallenriffe durch den Hurrikan Ivan. Es blieb nur ein einziges Gebiet völlig intakt und unberührt, das in der Folge von immer mehr Touristen besucht und dadurch beschädigt wurde. Ich habe erkannt, dass durch das Schaffen eines künstlichen Riffs aus Skulpturen nicht nur ein neuer Lebensraum für Meereslebewesen entstehen würde, sondern auch Besucher*innen von den anderen Naturschauplätzen weggelockt werden könnten.
 
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Museo Atlantico, Playa Blanca, Lanzarote
 
JKG: Das Museo Atlantico vor der Küste von Lanzarote ist ein ehrgeiziges Projekt – der erste Unterwasser-Skulpturenpark dieser Art in der Nähe von Europa. Können Sie mir mehr über seine Entstehung erzählen?
JdCT: Lanzarote ist bekannt für seine Interventionen im Bereich der Umweltkunst. Die Regierung wollte ihr kulturelles Portfolio erweitern und den maritimen Raum miteinbeziehen. Das Museo Atlantico ist um einen botanischen Unterwassergarten herum angelegt und besteht aus über zehn großflächigen Installationen (etwa 300 Einzelstücke). Es ist durch eine 30 Meter lange Mauer und ein Tor in zwei Abschnitte unterteilt. In jeder der einzelnen Installationen wird diese zentrale Linie als Bezugspunkt oder als Punkt ohne Wiederkehr aufgegriffen. Viele der Werke sind hybride Skulpturen aus Mensch und Pflanze.
 
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Museo Subacuático de Arte en Mexico (MUSA)
 
JKG: Erfüllen die Skulpturen wie beim Museo Subacuático de Arte en Mexico (MUSA) eine ökologische und biologische Funktion, indem sie Korallen und neues Wachstum unterstützen?
JdCT: Ich versuche Folgendes zu erreichen: Verringern der Auswirkungen des Tourismus, Schaffen von neuem Substrat für Korallen, Schwämme und Hydroiden, Schaffen von neuem Lebensraum und speziell gestalteten Räumen für einzelne Lebewesen wie Krustentiere, Schwarmfische etc. Es gibt auch Schlupfwinkel, in denen sich manche Arten vor Raubtieren verstecken können. Und schließlich nutze ich die Botschaft der Werke auch in einem kunstaktivistischen Sinn, um auf den Missbrauch unseres Planeten und insbesondere der Meeresgebiete aufmerksam zu machen. Das figurative Element stellt die Verbindung zu einem breiteren Publikum her und ist entscheidend für die Auseinandersetzung mit dem Klimawandel.
 
JKG: Das in der Themse vor dem Parlament in London installierte Projekt The Rising Tide (Die steigende Flut) war wegen seiner kritischen Anspielung auf die Ölförderung ziemlich umstritten. Wie waren die Reaktionen in der Öffentlichkeit und in den Medien?
JdCT: Ja, es wurde recht schnell bemerkt, dass die Reiter auf eine industrielle Apokalypse anspielen. Die öffentliche Wirkung war phänomenal, fast zum eigenen Nachteil, da die Behörden wegen der Menschenmengen am Flussufer Sicherheitsbedenken vor der steigenden Flut hatten und die Genehmigung schließlich nicht verlängert wurde.
 
Jason deCaires Taylor "The Rising Tide", 2016, Themse Flußbett, London, pH-neutraler Zement, Edelstahl, Schotter
Jason deCaires Taylor "The Rising Tide", 2016, Themse Flußbett, London,
pH-neutraler Zement, Edelstahl, Aggregationen
 
JKG: ... und jetzt das Projekt auf den Malediven, an dem Sie arbeiten sollen ... Es ist so aktuell angesichts des Verschwindens von Strandflächen auf den Malediven. Was ist dort genau geplant?
JdCT: Das Projekt wird aus einem teilweise untergetauchten Galerieraum oder „Oceanarium“, wie ich es genannt habe, bestehen. Es wird das erste Mal sein, dass ich versuche, ein komplettes architektonisches Werk in einer Gezeitenzone zu errichten. Die Installation wird aus einer kubusartigen Korallenstruktur bestehen, in der sich eine Reihe von Arbeiten auf Sockeln befinden. Die Sockel stellen die figurativen Werke auf unterschiedlichen Höhen aus und sollen so den steigenden Meeresspiegel und die Gefahren für die Küstenregionen hervorheben.
 
JKG: Und in Sjoholmen, am Oslo-Fjord, haben Sie gerade Ihr neues Projekt Nexus geschaffen. Können Sie mir davon erzählen?
JdCT: Zehn Unterwasserskulpturen schweben einen Meter unter der Oberfläche und sind über "Nabelschnüre" aus rostfreiem Stahl mit dem Meeresboden verbunden.
Ein schwimmender Oberflächenponton beherbergt zwei figurative Bronzearbeiten, die auf die Präsenz der anderen Installationselemente unter Wasser verweisen.
Die Unterwasserarbeiten wirken von der Wasseroberfläche aus recht kalt und trostlos, aber wenn man untertaucht, entsteht durch das Sonnenlicht und Sedimente von Herbstlaub eine ganz andere Wirkung. Es war eine interessante Erfahrung, weil das Wasser im Fjord schichtweise aufgebaut ist – Süßwasser, gefolgt von Salzwasser mit einem grünlichen Algenschimmer, gefolgt von einer weißen Schwefelschicht. Wenn man sich also die Werke unter Wasser ansieht, verändern die unterschiedlichen Lichtfilter im Wasser den Effekt extrem. Bald wird eine Eisschicht die Installation überdecken, was den Zugang zu den Werken verändert und sie praktisch in eine völlig andere Welt einschließt.
 
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Nexus, Sjoholmen, 2018, Oslo Fjord, Norway, pH-neutraler Zement, Jesmonit, rostfreier Stahl.
 
JKG: Auch bei Nexus geht es wieder um die Verbindung zwischen der Kunst, die Sie geschaffen haben, und lebenden Organismen. Tatsächlich geht die Kunst über das bloße Objekt hinaus. Sie ist auch ein lebendiges Forum für Unterwasserwachstum und -leben.
JdCT: Die Meeresfauna und -flora ist sehr interessant in diesem Gebiet, das überwiegend von einer städtischen Umgebung geprägt ist, und es besteht die Hoffnung, dass die neuen Strukturen Filterorganismen anziehen, was wiederum zur Verbesserung der Wasserqualität beitragen könnte. Wir haben eine Reihe von Krebstierbehausungen unter anderem an der Basis der Nabelschnüre installiert, die schnell bewohnt wurden. Die Kinder des dortigen Kunstzentrums werden das fortführen und die Entwicklung überwachen. Man kann bereits beobachten, dass sich verschiedene Meereslebewesen angesiedelt haben. Seescheiden und Muscheln heften sich an die vertikalen Säulen und filtern das Wasser, sodass sich insgesamt die Wasserqualität im Laufe der Zeit hoffentlich verbessern wird. Ich hoffe, dass die metaphorische Beziehung des Menschen zur ozeanischen Welt unsere enge Verbindung mit dem Meer und letztendlich unsere Abhängigkeit von seiner Gesundheit verdeutlicht.
 
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Jason deCaires Taylor "Vicissitudes", 2006, Moilinere Bucht, Grenada, Tiefe: 5m, Molinere Bucht Unterwasserskulpturenpark  
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Vicissitudes, 2006, Moilinere Bay, Grenada

JKG: Wo haben Sie Ihre erste Unterwasserskulptur aufgestellt?

JdCT: Meine erste Unterwasserskulptur war The Lost Correspondent in Grenada. Nachdem ich sie zum ersten Mal aufgestellt hatte, wurde sie schnell von Meereslebewesen bevölkert und veränderte sich dadurch. Ich hatte auch zuvor schon immer das Gefühl gehabt, dass meine Werke über ihren alleinigen Wert als Kunstwerk hinaus einer praktischen Existenzberechtigung bedurften. Dass sie mehr als eine Funktion haben und irgendwie etwas zurückgeben sollten. Diese erste Arbeit ist Inspiration für inzwischen mehr als 1000 öffentliche Skulpturen, die in den Ozeanen und Meeren der Welt aufgestellt sind. Jedes der Werke wurde aus einem langlebigen pH-neutralen Zement geformt, dessen Oberflächenstruktur für die Besiedelung durch Korallen und andere Meereslebewesen optimiert ist. Nach der Laichzeit bieten die Werke den verschiedenen Arten Gebiete zur Ansiedlung. Es ist so, dass nichts, was von Menschenhand geschaffen wurde, der Vorstellungskraft der Natur entspricht. Schwämme können wie Adern aussehen. Geweihkorallen verändern die Form der Skulpturen, Feuerwürmer kabbeln beim Fressen über die Gesichter und hinterlassen weiße Linien, Seeigel krabbeln auf der Suche nach Algen nachts über die Körper, durch Ansiedlung von Kalkalgen entsteht eine Art violetter Anstrich. Als Bildhauer habe ich das Glück, mit einem Team von maritimen Assistent*innen zu arbeiten, die die endgültige Patina auftragen.
 
JKG: Was versuchen Sie zu erreichen?
JdCT: Wie wir alle wissen, sterben unsere Riffe ab und unsere Ozeane sind in ernsthaften Schwierigkeiten. Der Klimawandel, die Überfischung, die Versauerung der Ozeane und der Verlust von Lebensraum verursacht durch menschliche Eingriffe sind der perfekte Sturm, der unseren Planeten für kommende Generationen verwüsten könnte. Wir müssen das verstehen, wenn wir an die Umwelt und die Zerstörung der Natur denken. Wir müssen auch beginnen, an unsere Ozeane zu denken. Mehr als zwei Drittel unseres Planeten besteht aus Wasser, und doch sind die Meere weitgehend vergessen und eine selten erforschte Welt. Die Ikonographie des Ozeans ist die einer flachen, blauen, endlosen Weite, die niemals beeinträchtigt werden könnte. Dennoch wissen wir jetzt, dass wir schreckliche Veränderungen auslösen. Ich hoffe, dass meine Werke unsere Beziehung zu dieser blauen Welt verändern, einen Zugang zur Erforschung ihrer Pracht schaffen und ein neues Gefühl von Verbundenheit und Empathie fördern.
 
JKG: Und was sehen Sie für die Zukunft voraus?
JdCT: Ich sehe eine Trendwende voraus; ich denke, der Wandel ist im Gange. Im Rahmen meiner Arbeit reise ich unweigerlich viel, und ich spüre allmählich eine starke kulturelle Veränderung oder Verschiebung; ob sie schnell genug kommen wird, bleibt abzuwarten, aber ich glaube, es wächst die Erkenntnis, dass unser Planet endlich ist und der Kapitalismus nicht.
 
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Autor: John K. Grande
Grande ist Autor einer Reihe von Büchern wie Art & Environment (Friendly Chameleon, Toronto, 1992), Balance: Art and Nature (Black Rose Books, 1994), Intertwining: Landscape, Technology, Issues, Artists (Black Rose Books, 1998), Art Nature Dialogues (SUNY Press, New York 2003) und Dialogues in Diversity; Art from Marginal to Mainstream (Pari, Italien 2007). Er hat weltweit Earth Art Ausstellungen kuratiert, so zum Beispiel in den Royal Botanical Gardens und Van Dusen Gardens in Kanada, im Pori Art Museum in Finnland (2011), in Meran, Tirol, Italien (2014), bei den Pan Am Games in Toronto und an vielen anderen Orten. 2016 kuratierte er Small Gestures in der Mucsarnok / Kunsthalle, Budapest, Ungarn.

Das Interview ist Teil von Johns Buch "Art, Space, Ecology", das im Oktober 2020 vom J.S. Klotz Verlagshaus herausgebracht wird.

 

 

Titlelbild: Banker, 2011, Isla Mujeres, Mexico, PH-neutreler Zement, Glasfaser, Aggregationen

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