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Kunst auf Dächern – und darüber hinaus

Kunst über den Dächern der Stadt – mit dem Projekt Höhenrausch brachte Martin Sturm von 2009 bis 2021 im österreichischen Linz Installationen und Skulpturen dem Himmel ein Stück näher. Wir sprachen mit ihm über die Wirkung von Kunst, ästhetische Erbauungen zur Freizeitbeschäftigung und die Weitergabe von Erfahrungen.

Herr Sturm, in einem Podcast sagten Sie: „Kunst lebt von Sinnlichkeit“. Mich erinnerte dieses Zitat an Jean-Christophe Ammann, der Kunst als „sinnlich wahrnehmbaren Denkgegenstand“ beschreibt. Was ist Ihre Definition von Kunst?

Bei dem Zitat von Ammann kann ich definitiv mitgehen. Aber für mich geht es noch einen Schritt weiter. Im Zusammenhang mit Musik sagte Heinrich von Kleist, dass sie direkt auf den Menschen wirke, mit Umgehung des Gehirns. Das gilt für mich auch für die bildende Kunst.

Kunst regt nicht nur zum Denken an, oder löst kreative Denkprozesse aus. Sie wirkt ganzheitlich, emotional und berührt.

Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?

Ja, ich denke da sofort an die Nebelinstallationen von Fujiko Nakaya bei der diesjährigen Ausgabe des Höhenrausch. Eigentlich war die Arbeit nichts anderes als ein ephemeres Wassergebilde, das wieder verschwindet. Aber sie hat eine ungeheure Umgebungswirkung, man kann sich ihr nicht entziehen. Das geht weit über ein reines Betrachten hinaus und erinnert an Naturerlebnisse, wie in einem Moor, oder wenn an der Nordsee die Grenze zwischen Meer und Himmel verschwimmt. Da zeigt Kunst ihre Wirkung nicht nur im gedanklichen Bereich, sie ist umfassender, wirkt auch im körperlichen Bereich.

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Fujiko Nakaya, Cloud Parking in Linz, Foto: Otto Saxinger

 

Welche Rolle spielt für Sie Kunst im allgemeinen und Skulptur im speziellen in unserer Gesellschaft?

Die Kunst leidet immer noch unter ihrer klassischen Rolle der ästhetischen Erbauung zur Freizeitbeschäftigung. Historisch wurde ihr da ein Platz zugewiesen, der schwer zu verlassen ist. Ich sehe sie aber als gleichberechtigter Mitspieler in unserer demokratischen Gesellschaft. Gerade Kunst und Skulptur im öffentlichen Raum kann Demokratie mitgestalten.

Bei dreidimensionaler Kunst aus Österreich denke ich vor allem an Erwin Wurm. Wer sind für Sie weitere wichtige Vertreter*innen?

Eva Schlegel ist, finde ich, eine der derzeit wichtigsten österreichischen Künstler*innen. Sie lebt und arbeitet in Wien und spielt in ihren Werken mit der Rolle der Betrachtenden. Dieses Jahr beim Höhenrausch präsentierte sie eine Arbeit mit riesigen Spiegelflächen, welche die Installation aus verschiedenen Pflanzen gezeigt haben, aber nicht das eigene Spiegelbild. Sie ist aktuell auch mit der Neugestaltung des Parlaments in Wien beauftragt worden. Ein weiterer Name, der mir einfällt, ist Michael Kienzer. Er ist schon immer sehr zeitgemäß mit dem Begriff der Skulptur umgegangen. In manchen Arbeiten bindet er das Publikum direkt mit ein. Er hat viel zu der Entwicklung der Skulptur in Österreich beigetragen.

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Eva Schlegel, Under the Cherry Tree, Foto: Otto Saxinger

 

Mit dem Höhenrausch bringen Sie seit 2009 Kunst in Österreich hoch hinaus. Wie kam es zu der Idee?

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Wege über die Dächer von Linz beim Höhenrausch 2009

Die Ausgangslage war 2009 eine ursprünglich einmalige Veranstaltung, damals war Linz Europäische Kulturhauptstadt. Die Dächer als Ausstellungsfläche zu nutzen hat sich aber als ein sehr erfolgreiches Format zur Stadtentwicklung herauskristallisiert. So haben wir diese Idee in den folgenden Editionen immer weiterentwickelt.

2015 waren Sie Speaker beim Internationalen Forum von sculpture network. Was ist seitdem passiert?

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Martin Sturm beim Internationalen Forum von sculpture network 2015

Wir haben zusätzliche Wege und Räume erschlossen, es gab neue architektonische Elemente und bestehende Bauteile wurden miteinander verbunden. Es wurden neue Kunstwerke installiert, die aber mit wenigen Ausnahmen temporär waren. Es war auch wichtig, das Verschwinden dieser Objekte und die Neuauflagen des Ortes ständig im Auge zu behalten. Nach 12 Jahren fand dann im vergangenen Sommer die letzte Ausgabe des Höhenrausches statt.

Wann wissen Sie, dass ein Projekt zu Ende ist?

Ich bin kein Freund von langfristigen Masterplänen. Eine Qualität der Kunst ist auch das Improvisieren um dynamisch, lebendig und handlungsfähig zu bleiben. Speziell beim Höhenrausch haben wir uns Jahr für Jahr aufs Neue angeschaut: wie reagieren die Künstler*innen und das Publikum? Haben sie noch Lust auf das Projekt? Kommen neue Leute? Gelingt es uns selbst noch Interesse und Lust zu generieren? Haben sich die Bedingungen verändert?

Das Wichtigste ist: offen und kurzfristig Dinge zu beurteilen und Entscheidungen treffen zu können.

Hans Ulrich Obrist spricht in seinen Interviews immer wieder von seiner Liste der „unrealized projects“ – also Ideen, die er nicht, oder noch nicht verwirklicht hat. Was steht da auf Ihrer Liste der Projekte, die Sie noch verwirklichen wollen?

Bisher habe ich an die 100 Projekte realisiert. Mein Ziel ist es nicht nochmal 100 weitere zu verwirklichen. Was ich aber sehe ist, dass in immer mehr Städten die Dächer bespielt werden, es entsteht eine zweite Stadtebene, die sowohl künstlerisch als auch kommerziell genutzt wird. Das zeigt mir, dass es eine Verdichtung von Interesse an diesem Thema gibt. Wir haben uns da in den letzten Jahren einen großen Erfahrungsschatz aufgebaut. Mein Ziel ist es, diese Erfahrungen weiterzugeben.

Sind Sie also Experte für Kunst auf Dächern?

Ja, das könnte man so sagen. Kunst auf Dächern – und darüber hinaus.

 

Weitere Infos zum Höhenrausch: http://www.hoehenrausch.at

Veröffentlicht im November 2021

Autorin: Elisabeth Pilhofer

Elisabeth Pilhofer ist freischaffende Redakteurin und Kulturmanagerin in München. 2009 war sie zufällig bei der ersten Auflage des Höhenrausch in Linz – und begeistert von DeMarinis Rain Dance. Zwölf Jahre später freute sie sich über die Gelegenheit persönlich mit Martin Sturm über diese außergewöhnliches Ausstellungsreihe zu sprechen.


 

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Elisabeth Pilhofer ist freischaffende Redakteurin und Kulturmanagerin in München.

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