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Berlinde De Bruyckere, Schutzengel

Der Stolz Belgiens Berlinde De Bruyckere (geb. 1964) und Nachbarland Niederlande: eine gute Kombination. Nun bekommt eine der bekanntesten europäischen Künstlerinnen eine Ausstellung, die sich gewaschen hat: das Bonnefantenmuseum in Maastricht, Niederlande. Unter dem Titel Engelenkeel (zu Deutsch Engelskehle) präsentiert sie Werke von 2014 bis heute. Und wie bei vielen Kunstschaffenden hat auch Corona Einfluss auf ihre Arbeit genommen.

Berlinde de Bruyckere with Unintentionally Keloid  (Ongewilde
wildgroei van mijn litteken), 2011, wax, leather, wool, rope, iron,
wood, straw, epoxy, 115x55x65 cm, Collection Museum Beelden
aan Zee, Scheveningen (NL), Photo: Mirjam Devriendt

 

Flämische Schlachtfelder

Nehmen wir erst einen Schritt zurück. Die Künstlerin wurde rund ums Jahr 2000 bekannt mit ihren eindrucksvollen Pferdekörpern, die mit ihrer Kraft und Würde auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges erinnerten. Die liegenden und hängenden Pferdeleichname formen Tableaus. Diese „Identifikationsfiguren“ hinterließen einen bleibenden Eindruck, indem sie die Besuchenden ihren Schmerz mitfühlen ließen. Das Thema Leiden, Leben und Tod, Folter und Trost, wird sie auch in den kommenden zwanzig Jahren nicht mehr loslassen.

22. Bonnefanten2021BDB ©Mirjam Devriendt-2.jpg
Berlinde De Bruyckere, NO LIFE LOST II, 2015. Bonnefanten, 2021, Horseskin, wood, glas, textiel, leather, blankets, iron, 230x85x306 cm, Photo: Mirjam Devriendt

 

Berlinde De Bruyckere, EMBALMED TWINS II,
2017, Exh. view Engelenkeel, Bonnefanten, 2021,
wax, textile, leather, rope, wood, iron, epoxy,
190x145x570 cm, Photo: Mirjam Devriendt

Später erntete De Bruyckere viel Applaus mit erst Zeichnungen und dann (Wachs-)Plastiken von „Deckenfrauen“, Frauen, über die Decken drapiert sind. Die Decke, womit wir uns wortwörtlich bedecken, uns verstecken, die uns im übertragenen Sinne sowohl schützen als auch ersticken kann, verweist auf das Gefühl von Geborgenheit der Kindheit, aber auch auf aktuelle Bilder von Flüchtlingslagern.

Leidender Leib

Ab dem Jahr 2005 verführte uns De Bruyckere mit ihren kopflosen, verformten „leidenden Leiben“. Schmerz kommt ganz nah heran. Verfall wird Schönheit, Verletzlichkeit wird Poesie. Der religiöse Leib Christi mit seiner bekannten Ikonografie drängt sich auf. In ihrem späteren Oeuvre sehen wir große, gezackte Wachsabgüsse von Tierhäuten. Mythologische und aktuelle Konflikte kommen zusammen. Kraftvolle, exhibitionistische Ausdrücke von Ohnmacht gehen Hand in Hand mit Stärke, Tod und Auferstehung. Wieder aufstehen.

Anno 2013 zog das monumentale Werk Cripplewood (zu Deutsch in etwa ‚Krüppelgewächse‘) ein großes Publikum in den belgischen Pavillon der Biennale in Venedig. Entblößt und verletzlich wie ein Wesen (man denke an den verwundeten heiligen Sebastian) – oder ist es doch ein Baum? – sehen wir ein imposantes hautfarbenes und hautartiges Flechtwerk als Totalerfahrung vor uns auftauchen. Bittere Schönheit, die jeder/m Besuchenden in Erinnerung bleibt. Das dazugehörende Buch ist das Ergebnis einer Begegnung der Künstlerin mit Nobelpreisträger J.M. Coetzee. In seinen Texten sprach sie vor allem die geteilte Liebe für sardonische Schönheit an. Ein absolutes Muss!

17. Bonnefanten2021BDB1316 ©Mirjam Devriendt.jpg
Berlinde De Bruyckere, Exh. view Engelenkeel, Bonnefanten, 2021, Photo: Mirjam Devriendt

 

Blüte

Ein weiterer Höhepunkt dann vor etwa fünf Jahren: Berlinde ‚verblümte‘ ihr Werk mit einer Ausstellung und dem dazugehörigen Buch It almost seemed a lily (zu Deutsch in etwa Es schien beinahe eine Lilie). Sie beschäftigte sich mit Altarschreinen des 16. Jahrhunderts und wurde ergriffen von ihrem Verfall. Die Künstlerin stellte eine Beziehung zwischen den fragilen gefallenen Blütenblättern und der zarten menschlichen Haut her.

Berlinde De Bruyckere, SJEMKEL IV - V, 2020,
Bonnefanten, 2021, wax, animal hair, silicone,
textile, polyurethaan, touw, rope, metal, epoxy,
197×78×45 cm, Photo: Mirjam Devriendt

Verwandlungen von Menschen in Tiere oder Blumen sind ihr sowieso nicht fremd. So geschah es, dass sie die Lilie mit all ihren religiösen Interpretationen mit Ovids Metamorphosen, einem Buch, das wiederum eine Blume beschreibt, verknüpfte. Große Stoffbahnen mit Lilien – die Jungfräulichkeit und Reinheit symbolisieren – sprossen aus dieser Geschichte, mit offensichtlichen erotischen Beiklängen.

 

Raum für Schmerz

Weiter zur Ausstellung im Bonnefantenmuseum in Maastricht. In den verschiedenen Sälen wird jeweils ein ‚Thema‘ aufgegriffen, wobei das gesamte Werk von Berlinde De Bruyckere an sich einem einzigen roten Faden folgt und darum auch fast schon als ein Gesamtwerk gesehen werden kann. Niemand kann um ihr vielschichtiges Werk umhin. Trotz der zwieträchtigen Begegnungen, die alles andere als immer nur angenehm anzuschauen sind und uns mit Themen, die nahverwandt mit schwerwiegenden Fragen wie dem Tod stehen, konfrontieren, suchen ihre Werke auch Annäherung, Trost und Berührung auf.

Es sind kraftvolle, raue Arbeiten, die ihre Stärke aus Zerbrechlichkeit schöpfen. Christliche Ikonographie und klassische Mythologie sind nie wegzudenken, auch wenn keine innige Bekanntheit mit ihnen Voraussetzung dafür sind, um von den ‚Skulpturen‘ völlig mitgerissen zu werden. Übrigens, laut der Künstlerin gibt Religion Menschen einen Raum, wo Schmerz einfach ‚sein‘ darf, und diesen  Raum bewahrt sie auch in ihrer Kunst. Wie man es auch dreht und wendet, ihre Werke haben einfach das ‚gewisse Etwas‘ und darum geht es doch in der Kunst, oder? Das Unsagbare aussprechbar zu machen.
 

35. Bonnefanten2021BDB1372 ©Mirjam Devriendt.jpg
Berlinde De Bruyckere, ALETHEIA, ON-VERGETEN, 2019. Bonnefanten, 2021, wax, wood, salt, epoxy, roofing, Exh. view Engelenkeel, Bonnefanten, (detail), Collection Fondazione Sandretto Re Rebaudengo (I), Photo: Mirjam Devriendt

 

Stützende Engel

Wie auch bei anderen Kunstschaffenden hinterließ die weltweite Krankheit der letzten achtzehn Monate Spuren bei De Bruyckere. Arcangelo – lebensgroße Engel – und Sjemkel – kompaktere Flügelskulpturen – sind das Ergebnis. Berührt von dem Engel, der sich im Werk des Renaissancemalers Giorgione (Der Leichnam Christi von einem Engel gestützt) versteckte, schlug sie eine Brücke zu allen Pflegenden – Engeln, wenn man so will – der Pandemiekranken.

Auch wenn sie die Engel nicht gerade nach unseren Träumen formt. Es sind eher Engel im Entwicklungsstadium, ganz wie das ‚hässliche‘ Entlein, das zu einem schönen Schwan wird. Ein/e Himmelsbewohnende, die/der einen Zufluchtsort vor Angst und Einsamkeit schafft – zwei Schlagwörter der aktuellen Krise. 

Und der Titel der Ausstellung, woher kommt der? Für die Künstlerin klinkt er wie ein Schrei, und genau das ist es auch. Ein einziger langgezogener Schrei, der darum bittet, gehört zu werden, gewandt an den Ort, an dem Liebe und Leid nah beieinander liegen, aber in oh so schöner Ummantelung.

Berlinde De Bruykere, Engelenkeel, Bonnefantenmuseum Maastricht, NL 
Until 3 October, 2021 
Publication Engelenkeel, (Dutch) Mercatorfonds and Bonnefanten, 2021
www.bonnefanten.nl

Paradise, group exhibition, Kunstroute Kortrijk, BE, until 24 October 2021
www.paradisekortrijk.be 

Autorin: Hilde van Canneyt

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Die belgische Kunstjournalistin Hilde van Canneyt (Ghent, BE) ist wohl am meisten bekannt für ihre mehr als 250 Interviews mit belgischen und niederländischen Kunstschaffenden. Die Interviews wurden auf ihrer Webseite und in verschiedenen Medien veröffentlicht. Was ist Kunst? Was ist ein/e Kunstschaffende/r? Warum verschließt sich jemand, um durch ein Kunstwerk zu kommunizieren?

2013 wurden die ersten 85 Interviews unter dem Titel Hilde vraagt (zu Deutsch Hilde fragt) veröffentlicht. 2021 folgte ihr zweites Buch 4321 Questions to 123 Artists, erschienen im Borgerhoff & Lamberights Verlag.

Als freischaffende Journalistin schreibt Van Canneyt Rezensionen und Texte für Kunstschaffende und Kataloge. Sie arbeitet regelmäßig als Kuratorin und Mitglied von Jurys und Ausschüssen. Daneben ist sie als Kunstcoachin tätig.

Titelbild: Berlinde De Bruyckere, ARCANGELO III, 2020, wax, wood, animal hair, metal, epoxy, H 300,5 × 61 × 67 cm (detail), Photo: Mirjam Devriendt

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