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Auf der Straße des Friedens

Der sculpture network Online-Club vom 04. April 2022 stand ganz im Zeichen von Austausch, Kommunikation und dem europäischen Gedanken. Unsere Gäste Claudia Gross, Alfred Mevissen und Cornelieke Lagerwaard brachten uns mit ihren Präsentationen von drei europäischen Skulpturprojekten, vom ganz kleinen bis zum ganz großen, die Bedeutung der Kunst für das Miteinander unterschiedlicher Kulturen nahe und ihr großes Potenzial, einen Beitrag zum Frieden zu leisten.

Frieden: ein großes Wort, ein großes Thema und ein großer, allgegenwärtiger Wunsch, dessen Verwirklichung leider oft allzu mühselig ist, wie die aktuelle Situation in Europa erschreckend deutlich vor Augen führt. Wie kommt Frieden zustande? Wie können wir ihn herbeiführen, wie fördern? Dazu hatten unsere Gäste der neuesten Ausgabe vom sculpture network Online-Club am 4. April 2022 ihre jeweils eigenen Ansätze, die alle in einem Punkt zusammenliefen: Wo kommuniziert wird, da ist Potenzial für Frieden. Und so standen Kommunikation, das Miteinander und der Austausch zwischen Kunstschaffenden (und ihrem Publikum) ebenso wie der grenzüberschreitende Kulturkontakt im Fokus dieses bereichernden Abends, in dessen Verlauf die über 90 Teilnehmenden auf drei europäischen Skulpturenpfaden wandeln durften – und auf den Spuren eines Pazifisten, der die Welt ein kleines Stückchen besser machen wollte. Denn was wäre ein besseres Symbol für den Frieden als eine Straße, deren einziger Existenzgrund darin besteht, Orte – und Menschen! – miteinander zu verbinden?

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Ein Zeichen für den Frieden im Süden Deutschlands: der Skulpturenweg Kaiserslautern

Als Teil des europaweiten Großprojekts Straße des Friedens, über das wir im Laufe der Veranstaltung noch so manches erfahren sollten, gab uns Claudia Gross, stellvertretend für den Verein Skulpturen Rheinland-Pfalz e. V., einen ersten Vorgeschmack davon, was Wanderer auf diesem Weg erwartet.

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Seit 35 Jahren engagiert sich der Verein für die Kunstlandschaft in der Pfalz, indem er den Skulpturenpfad von Johanniskreuz über Kaiserslautern bis nach Queidersbach pflegt und kontinuierlich erweitert. Die mittlerweile 81 Skulpturen aus dem ortstypischen Sandstein sind Ergebnis von bisher zehn Symposien, zu denen Jürgen Picard und das Carl-Picard-Natursteinwerk in unregelmäßigen Abständen einladen. Alle zwei bis drei Jahre im Sommer finden sich je fünf ausgewählte deutsche und internationale Künstlerinnen und Künstler für vier Wochen in der Pfalz zusammen, um dort ihren Beitrag zum Skulpturenweg und zur Straße des Friedens zu erschaffen. Das Miteinander im Schaffensprozess, das durch ein gemeinsames Thema gefördert wird, ist ein zentraler Aspekt dieser Symposien. Ein Miteinander, das zur Verständigung zwischen unterschiedlichen Nationalitäten beiträgt und illustriert, wie viel Inspiration im Austausch liegen kann.

Claudia Gross vermittelte einen zauberhaften Eindruck der ganz unterschiedlichen Werke auf diesem Weg und ihrer Interaktion mit der malerischen Landschaft der Pfalz. Besonders interessant für alle Kunstschaffenden im Publikum: Die Ausschreibung für das nächste Symposium im Sommer 2023 läuft noch bis zum 30. April. Das Thema: Frieden und Demokratie.

Europa im Herzen: die Initiative Art Moves Europe

Mit dem Thema Frieden setzt sich auch unser zweiter Speaker intensiv auseinander: Alfred Mevissen ist Gründer der Initiative Art Moves Europe e. V., einem Verein, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die Skulptur als Medium der Völkerverständigung stärker präsent zu machen und den europäischen Gedanken durch die Kunst zu fördern.

Alfred, selbst Künstler und überzeugter Europäer, engagiert sich seit 2018 leidenschaftlich für diese Idee und hat neben einer Wanderausstellung zum Thema europäische Werte, dem experimentellen Projekt „Unity in Diversity“ (einer freien Kollaboration unterschiedlicher Künstlerinnen und Künstler an einer einzigen Skulptur) und einem Symposium zum Thema „Visions for Europe“ auch den European Sculpture Path ins Leben gerufen, dessen feierliche Eröffnung am 9. Mai 2022 an den verschiedenen beteiligten Orten stattfinden wird. Die Idee dieses Skulpturenwegs ist es, die europäischen Länder durch gemeinsame Visionen für die Zukunft Europas, versinnbildlicht durch mindestens eine Skulptur von mindestens zwei Metern Durchmesser pro Land, enger miteinander zu verknüpfen. Politik spielt dabei eine untergeordnete Rolle: Art Moves Europe versucht vielmehr, vereinende Momente jenseits von Nationalstaatlichkeit und Ländergrenzen aufzuzeigen und geteilte Werte in den Vordergrund zu stellen. Mit bislang 21 Skulpturen in 14 Ländern ist schon viel erreicht, aber auch noch einiges zu tun, weshalb Alfred zur Beteiligung am Projekt und zu Kooperationen aufruft.

     

Über Grenzen hinweg: die Straße des Friedens

Mit Spannung erwartet wurde vor allem Cornelieke Lagerwaards Präsentation des Großprojekts „Straße des Friedens – Straße der Skulpturen in Europa“, dessen Name bereits früher am Abend gefallen war. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Situation ein Projekt, dessen Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Cornelieke, Co-Vorsitzende des Vereins, geleitete uns auf einer bewegenden Zeitreise durch die rund 90-jährige Geschichte der Idee, einst einander feindlich gesinnte Nationen durch einen Skulpturenweg zu vereinen. Bereits in den 1930er-Jahren konzipierte der deutsche Bildhauer und Pazifist Otto Freundlich vor dem Hintergrund der politischen Spannungen in Europa einen Leuchtturm des Friedens, der als Mahnmal gegen Gewalt und Krieg und als kommunikativer Treffpunkt weithin sichtbar in der Landschaft aufragen und mit anderen Monumenten dieser Art über einen Weg verbunden sein sollte. Zu einer Umsetzung des Projekts kam es nie: Freundlich, der Jude war und als „entarteter Künstler“ geführt wurde, wurde von den Nazis deportiert und 1943 ermordet. Seine Lebensgefährtin, die Künstlerin Jeanne Kosnick-Kloss, hielt jedoch auch nach seinem Tod daran fest: Sie beschrieb zwei konkrete Routen durch Europa, die den Landungsplatz der Alliierten in der Normandie mit Moskau sowie Freundlichs Zufluchtsort in den Pyrenäen mit Amsterdam verbanden. An der Kreuzung dieser Wege in Auvers-sur-Oise imaginierte sie die Errichtung von Freundlichs Leuchtturm des Friedens inmitten einer Künstlerkolonie, die Menschen aller Nationalitäten, vereint in der Liebe zur Kunst, zusammenführen sollte.

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Map of the two stretches: Normandy – Moscow: 4.000 km, Amsterdam – Pyrenees: 1.500 km

 

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Scale model of the sculpture of Anne Wenzel in ´s-Hertogenbosch, Netherlands

Auch wenn Kosnick-Kloss’ Vision nie in die Realität umgesetzt wurde, so war doch die Saat für die Straße des Friedens gesät. In den 70er-Jahren nahmen der Künstler Leo Kornbrust und die Dichterin Felicitas Frischmuth den Gedanken neu auf: Mit der Ausrichtung eines Internationalen Symposiums – damals ein revolutionär neues Format im Kontrast zum einsamen Schaffen in einem Atelier! – im süddeutschen St. Wendel, nahe der französischen Grenze, legte das Paar 1971 den Grundstein für die Initiative, die heute unter ihrem Schirm über 500 Kunstwerke und zahllose  Projekte und Friedensinitiativen in ganz Europa vereint. Mit den während des Symposiums entstandenen Skulpturen wurde 1973 ein Skulpturenweg in der deutsch-französischen Grenzregion gegründet – ein erster Teilabschnitt auf der Straße der Skulpturen in Europa, die sich in den kommenden 50 Jahren nach Freundlichs und Kosnick-Kloss’ Plan nach und nach dank Partnern und Initiativen in den beteiligten Ländern bilden sollte. 1988 widmete Leo Kornbusch in St. Wendel eine von drei Pyramiden auf der Straße der Skulpturen dem Vater der Idee, Otto Freundlich – die anderen beiden Pyramiden stehen in der Normandie und in Moskau. Ein befremdlicher Gedanke, der gerade heute bestürzend deutlich macht, wie notwendig die Straße des Friedens ist und wie unverzichtbar, dass wir sie hegen und pflegen.

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The Lighthouse planned for the Crossroads in Auvers-sur-Oise near Paris. Jeanne had the cardboard model cast in plaster

Cornelieke vergleicht das Projekt mit einer Amöbe: ein Einzeller, bestehend aus einem Gedanken – dem Wunsch nach Frieden und Verständigung –, der jedoch keine feste Form hat, sondern ständigen Veränderungen unterworfen ist. Partner des Projekts wechseln, alte verschwinden, neue kommen hinzu. Analog zur jeweiligen politischen Situation ist auch die Straße des Friedens in stetigem Wandel begriffen. Dass sie Nationen verbindet und eint, ist kein Selbstläufer, sondern erfordert stetige Kommunikation, Austausch, gegenseitiges Verständnis. Das sollte uns deutlich vor Augen führen, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit ist, dass wir uns stets aufs Neue um ihn bemühen müssen.

Wer einen besseren Eindruck von den Hintergründen dieser monumentalen europäischen Initiative gewinnen möchte, dem sei der Dokumentarfilm Das geht nur langsam von Gabi Bollinger wärmstens empfohlen. Einen Vorgeschmack gibt es im Trailer:

Titelbild: Leo Kornbrust: High heptagon, 1995, Height: 12,5 metres, Impala granite, 12 stone blocks, Saarbrücken, Germany

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