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Vom Kultbild zum Symbol der Freiheit

Einst sollten Skulpturen und Plastiken der Gesellschaft Götter, Mythen und Herrscher nahebringen. Heute ist ihre öffentliche Wirkung wieder auf unerwartete Weise hochaktuell.

Von allen Kunstformen hatte die Skulptur lange den größten Einfluss auf die Gesellschaft. Das hat einen ebenso einfachen wie einleuchtenden Grund:  Skulptur wurde dafür geschaffen, im öffentlichen Raum, oft genug unter freiem Himmel, zu stehen. Somit war sie ideal, damit sich eine Öffentlichkeit über sie verständigte. Schon in den antiken Hochkulturen machten sich die Menschen über Skulpturen ein Bild von ihren Göttern. Über Standbilder waren auch die weltlichen Herrscher im ganzen Reich präsent. Im alten Griechenland diente die Skulptur dabei zunächst ausschließlich der Darstellung der Götter. Jeder Tempel besaß eine Cella mit Standbildern der dort verehrten Gottheit, etwas Zeus oder Athena. Die klassische griechische Skulptur stellte fast ausschließlich Götter, Helden und Heldinnen und ihre Mythen dar. 

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Harmodios und Aristogeiton, Marmorkopie, 185 cm hoch © Museo Archeologico Natzionale di Napoli

Skulpturen realer weltlicher Machthaber mochten die Bürger der griechischen Stadtstaaten zunächst gar nicht: „Man pflegte keine Bildnisse von Männern zu machen, es sei denn, ihnen gebührte die Unsterblichkeit auf Grund einer hervorragenden Leistung, vor allem eines Sieges bei den heiligen Spielen, besonders denen von Olympia“, schrieb Plinius. Kein lebender Mensch sollte durch eine Porträtskulptur überhöht werden.
Die ersten, denen die Athener auf Staatskosten auf der Agora Statuen errichteten, waren die Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton. Allerdings betont Plinius, dass die Plastiken erst nach ihrem Tod aufgestellt wurden, damit die Betroffenen diese außergewöhnliche Ehrung nicht mehr zu ihrem Vorteil nutzen konnten. Demosthenes bemerkte in einer seiner Reden, dass die Athener sich der Aufstellung von Bronzestatuen für Miltiades und Themistokles widersetzt hätten, obwohl sie die Sieger von Marathon und Salamis waren.

Wir wissen, dass die Griechen mit diesem Misstrauen gegenüber weltlicher Skulptur oder gar der Porträtbüste einer lebenden Person nur eine kurze Ausnahme waren. Wo es Könige gab, von Assyrien bis zum hellenistischen Imperium Alexanders des Großen, ließen es sich die Herrscher nicht nehmen, sich auf den öffentlichen Plätzen über Standbilder verherrlichen zu lassen. Die römischen Kaiser übernahmen diese Tradition. Rund ums Mittelmeer verkündeten die Standbilder des Imperators (meist aus wetterbeständiger Bronze), wer an diesem Ort das Sagen hatte. Die Skulptur war ein wichtiges Instrument des Regierens geworden – und blieb es bis in die Neuzeit. Immer diente sie dazu, eine Gesellschaft hinter einer Person, hinter einer religiösen oder politischen Idee zu vereinen. Im Mittelalter war Skulptur vor allem in Kirchen zu finden, in der Darstellung von Jesus, Maria und den Heiligen. In der Renaissance kehrte die Bildhauerei mit profanen Themen auf die öffentlichen Plätze zurück: in Form von Reiterstandbildern berühmter Heerführer (Beispiele sind Andrea del Verrocchios Reiterstandbild des Bartolomeo Colleoni oder die Skulptur des Condottiere Erasmo da Narni von Donatello), alle geschaffen nach dem Standbild des Kaisers Marc Aurel in Rom. 

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Andrea del Verrocchio (Guss: Alessandro Leopardi), Statue des Bartolomeo Colleoni (1483-88), Bronze, 395 cm hoch, Campo Santi Giovanni e Paolo, Venedig. Foto: Didier Descouens

 

In Florenz wurde Michelangelos David vor dem Palazzo della Signoria aufgestellt, dem Ort, wo die politischen Entscheidungen fielen, sollte David doch die Florentiner in ihrer Wehrhaftigkeit gegen übermächtige Gegner bestärken. Nebenan in der Loggia dei Lanzi, lässt sich noch heute erkennen, welchen Stellenwert die Skulptur für die Bürger dieser Stadt erlangt hatte. Florenz zeigte der Welt öffentlich, dass hier die besten Künstler der Zeit wirkten, von Giambologna bis Cellini. Ein Jahrhundert später spielten Skulpturen in der politischen Propaganda Ludwigs XIV eine zentrale Rolle, wie der Historiker Peter Burke in seinem Buch über Ludwig XIX. darlegte.
In Renaissance und Barock waren die Eliten fasziniert von den Ausgrabungen antiker Skulpturen, und Bildhauer wie Bernini ließen sich von diesen Funden inspirieren. Hier stand Skulptur für den Wunsch, eine Glanzzeit der Kunstgeschichte wiederzuentdecken und von ihr zu lernen.

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Auguste Rodin (Guss: Alexis Rudier), Die Bürger von Calais (1884–1889), Bronze, 216 x 255 x 196 cm, Kunstmuseum Basel

Mit der Eröffnung von Salons und der Gründung öffentlicher Museen wuchs auch außerhalb der Kirchen der Einfluss der Malerei. Die Stadtbevölkerung diskutierte nun weniger über Skulpturen als über die Themen politischer Gemälde von Ingres, Gericault und Delacroix. Dennoch gab es auch im 19. Jahrhundert bildhauerische Werke, die öffentliches Aufsehen erregten: so Johann Gottfried Schadows sinnliche Marmorgruppe der nur leicht verhüllten Prinzessinnen Louise und Friederike oder Rodins bewegende Bronzeplastik Die Bürger von Calais vor dem Rathaus der belgischen Hafenstadt.

Mit dem Aufkommen neuer Medien wie der Fotografie verlor die Skulptur viele ihrer einstigen repräsentativen gesellschaftlichen Aufgaben. Sie eroberte sich jedoch neue Räume und wurde auf öffentlichen Plätzen zum Ausdruck von Fantasie, Kreativität und Freiheit. Natürlich setzten sich Künstler im 20. Jahrhundert auch thematisch stets mit ihrer Gesellschaft auseinander: Cesar etwa mit dem Thema Metallschrott, Sylvie Fleury und Jeff Koons mit der Begehrlichkeit einer glänzenden Warenwelt. Doch noch viel wichtiger scheint heute ihre soziale Funktion als Identifikationsstifter geworden zu sein. Skulpturen geben heute Städten ein Image, wie es bisher nur die Architektur tat. Undenkbar, sich Paris ohne Touristenattraktionen wie den Strawinskibrunnen von Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely am Centre Pompidou vorzustellen, oder Basel ohne den stets umlagerten Fastnachtsbrunnen Tinguelys. Anish Kapoors ArcelorMittal Orbit wurde 2012 zu einem Symbol der Olympischen Spiele in London. 

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Anish Kapoor und Cecil Balmond, ArcelorMittal Orbit (2012), Stahl, 115 m hoch, Queen Elizabeth Olympic Park, London

 

Bilbao zeigt nicht nur durch das Guggenheim Museum, sondern auch durch monumentale Freiluft-Skulpturen weltbekannter Künstler wie Louise Bourgeois, Anish Kapoor und Jeff Koons, dass es kulturell Elite ist. 

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Jeff Koons, Puppy (1992), Stahl, Erde und Blumen, 1240 x 1240 x 820 cm, Guggenheim Bilbao. Foto: Timian Hopf
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Louise Bourgeois, Maman (1999), Bronze, 927 × 892 × 1024 cm, Guggenheim Bilbao. Foto: Timian Hopf

 

In Moskaus Gorky-Park vermittelte das Garage-Museum mit den Außenskulpturen von Yahoi Kusama, dass Russland bunt und weltoffen sein kann. Welche Rolle als gesellschaftliches Symbol für Modernität der Skulptur im 21. Jahrhundert zukommen kann, zeigt sich in Doha, der Hauptstadt des Emirats Qatar, das durch Skulpturen im öffentlichen Raum seine Weltoffenheit und seine Anschlussfähigkeit an den Westen demonstrieren möchte. Werke von Sarah Lucas, Richard Serra, Damien Hirst, Louise Bourgeois und Urs Fischer sind über die Stadt verteilt. Hinter dieser Initiative steckt die Schwester des Emirs, Sheikha Al Mayassa Al Thani. Es war unvermeidlich, dass sie damit in ihrem Land auch aneckt. Damien Hirsts Bronze-Serie The Miraculous Journey, die verschiedenen Stationen eines gestikulierenden Fötus in einem Uterus zeigte, fand mancher Einheimische obszön. Die Serie musste zeitweilig verhüllt werden, ist nun aber wieder vor einem bekannten Krankenhaus in Doha aufgestellt. 

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Damien Hirst, The Miraculous Journey (2005-2013), 14 Bronze Plastiken, je ca. 14 m hoch, Sidra Medical Centre, Doha. © Qatar Museums

 

Es ist eindrucksvoll, zu sehen, welche Bedeutung öffentliche Skulpturen für die Entwicklung und die Außendarstellung eines arabischen Landes haben kann. Doch auch andernorts sind unverkennbare Skulpturen Publikumsmagneten. Die vielen Biennalen und Ausstellungen sind ein Indiz dafür. 
Sicher ist, dass Skulptur heute wieder mitten in der Gesellschaft stattfindet, dass sie Diskussionen auslöst und ihr sogar die Kraft zugetraut wird, gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Die sozialen Medien durften dazu beitragen, dass Skulpturen für die Gesellschaft noch relevanter werden: Eine weltweite Instagram-Community, immer auf der Suche nach neuen Bildern, wird sie befördern. Denn aufregende öffentliche Skulpturen liefern genau diese Bilder, die in Sekundenschnelle um die Welt gehen.  
Möglich also, dass wir in einer Blütezeit der dreidimensionalen Kunst leben, wie es sie in der Geschichte der Menschheit gar nicht so oft gab.

 

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Autor: Holger Christmann

Holger Christmann ist Münchner Kunst-Journalist. Zum Auftakt unseres Jahresthemas hat er sich auf eine gedankliche Reise von der Antike bis heute gemacht.
 

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