Magazin

Die beweglichen Skulpturen und ihre verborgenen Bedeutungen: Ein reisendes Denkmal voller Geschichten von Migration

"May Your Dreams Come True" (Mögen Deine Träume wahr werden) steht auf einem der Transparente, die von jungen Menschen getragen werden, die im Spätsommer des Jahres 2018 auf ihren Rädern einem Wagen mit riesigen Plastiken aus Bronze durch die Straßen von Amsterdam Noord folgen. Die Parade endet im Stadtteil Molenwijk, vor der brandneuen Werkstatt von Framer Framed. Diese Umsiedlung des Kunstwerks "The First Turk Immigrant or The Nameless Heroes of The Revolution" (Der erste türkische Immigrant oder Die namenlosen Helden der Revolution) des türkischen Künstlers Suat Ögüt (1986) ist voller Symbolik.

1670080380442.JPEG
Zuallererst machte die Ankunft des mobilen Kunstwerks im öffentlichen Raum die Bewohner*innen von Molenwijk darauf aufmerksam, dass die Kunstorganisation Framer Framed in ihrem Stadtteil angekommen war. Das Kunstwerk war zuvor den ganzen Sommer über auf der IJ-Promenade in der Nähe des Tolhuistuin zu sehen, wo sich Framer Framed bisher befand. Anstatt die Nordstädter*innen an die Ufer des neuen trendigen IJ zu locken, beschloss Framer Framed, Kunstschaffende und Kunst zu den Menschen im Norden der Stadt zu bringen und übersiedelte in den Molenwijk. 

 

Dieses rollende Kunstwerk ist jedoch weit mehr als nur eine Visitenkarte, denn es erzählt die Schicksale von türkischen Immigrant*innen. Die Skulpturen auf dem Wagen sind Portraits politischer Flüchtlinge aus den 1960er bis 1980er Jahren, die unter der Verfolgung der türkischen Regierung litten. „Im Jahr 2012 traf ich Doğan Özgüden, einen Journalisten und eine der zentralen Personen für dieses Projekt“, sagt Ögüt. „Er ermöglichte mir viele Einblicke in die Lebensgeschichten von politisch Verfolgten. Seine interessanten Bücher über seine Kindheit in den 1940er Jahren bis heute, berichten darüber, wie er die Zeit erlebt hat bevor er nach Europa ging“.

 

Im Rahmen einer Archivrecherche fand Ögüt neun Personen, von denen jede in ein anderes europäisches Land geflohen war. Diese Länder (Österreich, Belgien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, die Niederlande, Schweden, die Schweiz und das Vereinigte Königreich) verfügten über Abkommen mit der türkischen Regierung über die Aufnahme von Gastarbeiter*innen. Zum damaligen Zeitpunkt wurde nicht zwischen wirtschaftlichen und politischen Einwander*innen unterschieden. „Alles basiert auf Wahrnehmungen und wird gesammelt unter dem Begriff 'Migration' abgehandelt. Ich halte das für problematisch“, sagt Ögüt. „Es gibt vielfältige Gründe dafür, hier zu sein. Es sind keine bekannten Menschen und auch ihre Geschichten sind kaum bekannt. Sie haben für bestimmte Dinge gekämpft. Diese Aktivist*innen kämpfen für ihre Rechte. Nicht nur in der Türkei, für jeden, der in Europa als 'Einwanderer' bezeichnet wird. Deshalb hoffe ich, dass dieses Denkmal auch allen anderen Stimmen mehr Gehör verschaffen wird“.

1670080406358_0.JPEG
Suat Ă–gĂĽt, The First Turk Immigrant or the Nameless Heroes of the Revolution / Foto: Framer Framed / Eva Broekema

Ögüt hat diese Menschen mit seinen Skulpturen erfahrbar gemacht. Als Grundlage für ihre Porträts dienten ihm Fotos aus der Zeit ihrer Flucht aus der Türkei, die er in Archiven fand. „Sie waren noch junge Leute, zwischen fünfundzwanzig und dreißig, als sie die Türkei verließen“, erklärt Ögüt. Unter den vielen männlichen Porträts fand sich nur ein einziges, auf dem eine Frau zu sehen war: Şengül Köker. „Es lag nicht in meiner Absicht, aber viele weibliche Aktivistinnen, die damals aus der Türkei weggegangen waren, konnte ich nicht finden. Als das Werk auf der IJ-Promenade während der Ausstellung Songs of the Unsung (2018) (Lieder der Unbesungenen) dem Publikum vorgestellt wurde, stand ihre Person im Mittelpunkt. Köker kam zur Eröffnung eigens aus der Schweiz angereist. Auch die Eröffnungsveranstaltung im Werkplaats Molenwijk stand ganz im Zeichen von ihr“.

 

Die Parade mit den Transparenten von der IJ-Promenade nach Molenwijk orientierte sich ebenfalls an Kökers Leben. „Sie war Mitglied in vielen politischen Parteien und ist immer noch politisch aktiv. Sie war für die Anfertigung der Transparente für unterschiedliche Demonstrationen verantwortlich. Also habe ich die von uns verwendeten Transparente aus ihrem persönlichen Archiv zusammengesucht“, erzählt Ögüt. „Meine Arbeit für diese erste Ausstellung in Molenwijk basierte auch auf diesen Transparenten, die hauptsächlich aus Bettwäsche hergestellt waren. Was für ein gewöhnlicher Gegenstand. Ich habe sie also in ihrer ursprünglichen Funktion benutzt, nämlich als Bettlaken. So konnte man sich Kökers Erlebnisse vom Bett aus anhören. Die Slogans auf den Transparenten habe ich zusammen mit den Student*innen bei der Prozession zum Molenwijk wiederverwendet“.

 

Das mobile Denkmal von Ögüt besteht aus mehr als nur Statuen. Für jede einzelne der Büsten konnte man einen Umschlag aus dem Wagen nehmen, in dem die Lebensgeschichte der abgebildeten Person beschrieben war. „Meine Intention war es, nicht nur Kunst zu zeigen, sondern mit den Geschichten in den Umschlägen auch etwas zu vermitteln“. Es entstand ein Diskurs. „Menschen, vor allem türkische, kontaktierten mich über die sozialen Medien. Ich habe mich mit einigen von ihnen getroffen. Sie wollten mehr über meine Arbeit und über mich wissen. Natürlich haben viele nur den Brief genommen und weiter nichts. Aber wenn es sich um eine Angelegenheit handelt, von der man persönlich betroffen ist, werden die Leute aktiv, und das ist jetzt schon ein paar Mal passiert. Gestern habe ich mich mit einem Freund verabredet, den ich durch eine meiner früheren Arbeiten im Amsterdamer Museum kennen gelernt habe. Diese zufälligen Begegnungen durch die Arbeit und die Vernetzung sind sehr wertvoll“. Letztendlich verteilte Ögüt 250.000 Briefe während der Sommermonate, in denen das Kunstwerk auf der belebten IJ-Promenade zu sehen war.

 

Der Ausstellungsort war auch aus einem weiteren Grund ein wichtiges Element der Arbeit, denn in den 1960er und 70er Jahren lebte die damalige türkische Gemeinde in der Nähe des Tolhuistuin. „Als das Eye Museum hier angesiedelt wurde, veränderten sich die Dinge sehr schnell. Die Zuwander*innen wurden immer weiter weggedrängt, an Orte wie den Molenwijk. Die Gentrifizierung hat dazu geführt, dass die Menschen, die jetzt auf der IJ-Promenade spazieren gehen, völlig andere sind. Alles wird zunehmend kommerzieller, und das ist nicht fair gegenüber den Menschen, die dann gezwungen sind von hier wegzuziehen“.

 

Ögüt räumt ein, dass er sich nicht sicher ist, ob seine Arbeit in Molenwijk verstanden wurde. „Es gibt dort einen hohen Anteil an Zuwander*innen“, sagt Ögüt. „Es war das erste derartige Projekt von Framer Framed in Molenwijk, und alle versuchten erst einmal zu verstehen, wie die Sache eigentlich abläuft. Ich würde dieses Kunstwerk eher als eine visuelle Darstellung der Ankunft von Framer Framed sehen“, so Ögüt.   

 

Dieses mobile Kunstwerk macht nicht nur den Umzug von Framer Framed nach Molenwijk sichtbar, sondern weist darüber hinaus auf die prekäre Lage von Immigrant*innen in Europa hin und auf den Zustand, dass Menschen in Folge der Gentrifizierung nirgendwo mehr Fuß fassen können. „Dadurch, dass das Werk mobil ist, kann es jederzeit versetzt werden“. Ögüt betont aber auch eine durchaus positive Sinnhaftigkeit: „Diese Menschen sind aktiv. Deshalb reisen sie viel, um sich zu treffen und gemeinsam etwas aufzubauen. Mit diesem Denkmal möchte ich genau diese Haltung der von mir dargestellten Menschen zeigen, dadurch, dass ich sie visuell zusammenbringe“.

 

Darüber hinaus nutzt Ögüt auch türkische Traditionen aus der Zeit des Osmanischen Reiches und Atatürks, um sie in den gegenwärtigen öffentlichen Raum Amsterdams zu integrieren. Indem er Held*innen in Bronze gießt, zeigt Ögüt, dass es viel Gewicht haben kann, Menschen ein Denkmal zu setzen und sie aus den Begrifflichkeiten und Abstraktionen der Bürokratie in den öffentlichen Raum zu heben. Und dies gilt nicht nur für das Kunstwerk, sondern auch für die Menschen, die das Kunstwerk verkörpert. Dies birgt das Potenzial, die gesellschaftliche Entwicklung zu verändern.

 

Ăśbersetzt aus dem Englischen von Sybille Hayek

Veröffentlicht im Dezember 2022

Ăśber den Autor/ die Autorin

Sietske Roorda

Sietske Roorda (Amsterdam, NL) ist eine niederländische Kunstkritikerin, Autorin und Podcasterin, die sich auf zeitgenössische Kunst spezialisiert hat und ein besonderes Interesse an politisch engagierter und feministischer Kunst hat.

Galerie

Zum Anfang der Seite scrollen