Sculpting Beyond Sculpture
„Alexa, kannst du ein Produkt für ein neues Kunstwerk empfehlen?“ Diese Frage stellte Emilio Vavarella Amazons bekannter virtueller Assistentin. In seinem Artikel beschreibt der in den USA lebende italienische Künstler seine Strategien Kunst Seite an Seite mit nicht-menschlichen Akteuren zu schaffen.
Als mich die Einladung von sculpture network über meine Arbeit zu sprechen erreichte, war die erste Frage, die ich mir stellte, welches meiner Werke eigentlich als Skulptur bezeichnet werden kann. Diese Frage stelle ich mir normalerweise gar nicht, wenn ich Kunst mache. Meine Werke sind die Ergebnisse von Experimenten mit Methodik, Ideen, Materialien und Techniken, die selten in die Geschichte einer einzelnen Kunstform passen. Wenn ich mein Werk jedoch aus dem Blickwinkel der Skulptur betrachte, dann entdecke ich trotzdem sich wiederholende künstlerische Strategien, um die unsichtbaren Vorgänge nicht-menschlicher Akteure und unsichtbarer technologischer Systeme sichtbar zu machen.
Das ist, zum Beispiel, der Fall bei Amazons Kuriositätenkabinett (2019), dem Ergebnis meiner Kooperation mit Alexa Voice Shopping, der künstlichen Intelligenz, die von Amazon entwickelt wurde. Um dieses Werk zu erzeugen, stellte ich Alexa eine einzige Frage: „Alexa, kannst du ein Produkt für ein neues Kunstwerk empfehlen?“ Sofort nachdem ich das empfohlene Produkt gekauft hatte, schlug Alexa ein weiteres vor, und noch ein eins, und so weiter und so fort… Ich folgte einfach und erwarb jedes Produkt, das so empfohlen wurde bis mein Budget für die Produktion komplett aufgebraucht war. Das Werk entspricht den angesammelten Produkten, die auf Empfehlung von Alexa erworben wurden.
Am ehesten erwirbt dieses Werk die Qualitäten einer Skulptur durch die tatsächlichen Produkte, die Teil der Installation ausmachen, aber auch durch deren Gegenüberstellung und Präsentation, mit Versandboxen als Sockeln. Diese Installation kann auch als eine immer wachsende Skulptur betrachtet werden. Jedes Mal, wenn das Werk ausgestellt wird, wirft es mehr als sein Produktionsbudget ab und dadurch können wieder neue Produkte erworben und der Installation hinzugefügt werden. Das entstehende Werk wird von Mal zu Mal größer und breitet sich invasiv im Ausstellungsraum aus, ähnlich einem Karzinom, das langsam den Körper einnimmt, oder wie der Kapitalismus, der jede Facette unserer Realität übernimmt.
Dieses Werk ist Teil meiner Langzeitstudie zu den verborgenen und unsichtbaren Mechanismen technischer Macht. Oder um es genauer zu sagen, es ist das Ergebnis einer laufenden Betrachtung der Grenzen menschlicher Autonomie und künstlerischer Urheberschaft in einer Welt, die durchtränkt ist mit autonomen nicht-menschlichen Akteuren. Ich möchte hervorheben, dass aus „menschlicher“ Perspektive, die von Alexa empfohlenen Produkte komplett unvorhersehbar waren. Aus der Perspektive von Amazon folgte jedwede weitere Empfehlung jedoch einer vordefinierten Logik: maximalem kommerziellem Konsum. Das Werk kann also also physische Manifestation obskurer kollaborativer Filter gesehen werden, die mithilfe der von Amazon verwalteten riesigen Datenbestände und Algorithmen, Produkt auf Produkt abstimmen. Die Installation ist gleichzeitig enthüllend und formgebend für ein Feld unsichtbarer Vorgänge, in dem wir stetig versinken. Für mich ist das eine Möglichkeit, unsichtbare vernetzte Vorgänge ins Gebiet der Skulptur und dessen Verhältnissen zwischen Objekten und Subjekten zu verlegen.
Das Thema nicht-menschlicher Autonomie findet sich immer wieder in meinem Werk und zeigt sich vor allem deutlich in Magst du Cyber? (2017), einer Robotersoundinstallation die eine Serie von kurzen Audionachrichten aussendet. Diese wurden von den Dialogsystemen – oder kurz Bots – der Datingwebsite Ashley Madison benutzt (welche ich abgerufen habe nachdem die Seite gehackt wurde). Diese Bots legten ein anarchisches und unvorhersehbares Verhalten an den Tag, indem sie aus unerklärlichem Grund anfingen, sich miteinander zu unterhalten und weibliche Nutzer zu kontaktieren, selbst wenn sie darauf programmiert waren, nur mit Nutzern des jeweils anderen Geschlechts zu interagieren.
Ich wollte mit diesem Werk sowohl konzeptuell wie auch materiell auf Robotik und nicht-menschliche Autonomie verweisen. Genau wie bei Amazons Kuriositätenkabinett betrachtete ich dieses Werk als ein Beziehungsfeld, das sowohl das physische Werk, die Öffentlichkeit als auch den Ausstellungsraum umfasst. Das führte mich zur Produktion schwenkbarer Roboterarme, die sich komplett autonom bewegen und Klänge senden. An jedem Arm ist ein parametrischer Lautsprecher befestigt. Diese Lautsprecher ähneln einem Laser, indem sie Klänge nur gezielt und in einer Richtung ausgeben können (im Gegensatz zu konventionellen Lautsprechern, die den Klang in alle Richtungen verteilen). Darüber hinaus prallt der Klang von harten Oberflächen wie Wänden wieder ab. Dadurch entstehen virtuelle Klangquellen, die es schwer machen, den Ursprung des Klangs festzustellen. Dank dieser Konstruktion waren die Besuchenden sowohl ein- wie auch ausgeschlossen von dieser lückenhaften Symphonie von Gesprächsbruchstücken. Dadurch, dass diese von Seite zu Seite des Ausstellungsraums zurückgeworfen wurden, ergaben sie ein flüchtiges, sinnliches Erlebnis.
Die Entwicklung dieser Arme spiegelt mein Verlangen wider, Objekte zu schaffen, die sich einem vollständigen Verständnis entziehen. Es ist meine Art eine physische Realität auszudrücken, in der wir uns wortwörtlich durch Informationsfelder bewegen, die unsere Sinne anregen und ihnen gleichzeitig teilweise entgehen. Im Großen und Ganzen fungierten die Roboterarme als physische Akteure in einem Spielfeld, das sie erzeugen und das ihre eigenen Bewegungen, Klänge und die Bewegungen der Besuchenden enthält.
In beiden Projekten, die ich oben vorgestellt habe, habe ich eine gewisse Offenheit für das Unvorhersehbare und Unerwartete bemerkt. Zum Beispiel hatte ich keine Ahnung wie Amazons Kuriositätenkabinett aussehen würde, bevor Alexa die Produkte vorschlug. In gleichem Maß waren auch die Nachrichten, die im Rahmen von Magst du Cyber? ausgesendet wurden, von den Bots von Ashley Madison gewählt und die Bewegungen der Roboterarme willkürlich. Die kommenden zwei Projekte umarmen die Idee technischer Unvorhersehbarkeit nur noch mehr. Im Jahr 2017 begann ich die Arbeit an zwei Skulpturprojekten. Das erste von ihnen ist Der Dinge andere Gestalt – 1. Fehlgeschlagene Objekte. Es ist das Produkt von heterogenen Technologien und Techniken, darunter 3D-Scanner, Datenmanipulation und 3D-Druck und besteht aus einer prozessbasierten, sich fortsetzenden Skulpturenserie. Der Ausgangspunkt dieses Werks ist eine Sammlung hunderter ‚fehlgeschalgener Objekte‘: 3D-Drucke, die ich auf der ganzen Welt eingesammelt habe, bevor sie von 3D-Druck-Labs zerstört wurden. Diese Objekte wurden aus verschiedenen Gründen als ‚fehlgeschlagen‘ eingestuft: einige waren nicht richtig gedruckt worden und die meisten hatten Verformung, Fehlerstellen und Defekte unterschiedlichster Art.
Jedwedes gefundene Objekt, das ich eingesammelt habe, wurde erst mit einem 3D-Scanner digitalisiert und danach mit einem 3D-Drucker erneut gedruckt, um ein zweites Objekt herzustellen. Dieses zweite Objekt wurde dann gescannt, und erneut gedruckt, was ein drittes Objekt hervorbrachte und so weiter. Mit jedem Schritt entstanden durch die Vermittlung und Übertragung von digital zu analog und von 3D-Scanner zu 3D-Drucker weitere unvorhergesehene Defekte und Verformungen – die dann wiederum zu neuen physischen Artefakten wurden. Ich habe jedes gefundene Objekt so lange reproduziert bis ich zufrieden war mit der hergeleiteten Serie. Die Produktion der Plastiken ist gänzlich einem System überlassen, das automatisch von analog zu digital überträgt. Außerdem ist die Ästhetik der Objekte stark geprägt durch die Software- und Hardwarefähigkeiten der Technologien, die ich eingesetzt habe. In diesem Sinne sind mein 3D-Scanner und mein 3D-Drucker mehr als nur Werkzeuge; sie sind künstlerische Kollaborateure die meine Arbeit co-produzieren.
Das zweite skulpturale Werk in dieser Serie trägt den Titel Der Dinge andere Gestalt – 2. Datamorphose. Es besteht aus 181 Skulpturen in 15 Gruppen, genannt Libri (Bücher), basierend auf den 15 Büchern, die Ovids Gedicht Metamorphosen ergeben. Jede Skulptur trägt den Namen einer von Ovids Mythen; sie wurden produziert von Computern, die gezwungen wurden, die lateinischen Verse der Metamorphosen als kodierte Anweisung zu interpretieren um neue plastische Formen zu produzieren
Um die Skulpturen herzustellen ersetze ich einfach den alphanumerischen Code, der von den Computern zur Herstellung der Skulpturen verwendet wird, Zeile für Zeile mit den entsprechenden originalen lateinischen Versen von Ovids Gedicht. Der erste Mythos Die Weltentstehung, zum Beispiel, entspricht den Zeilen 5-75 von Ovids Libro I, welche ich anstelle der Zeilen 5-75 des Codes zur Herstellung der ersten digitalen Skulptur einfügt habe. Meine Handlung, die ich für jede Skulptur analog wiederholt habe, zwingt das lateinische Gedicht dazu, als Quellcode für dreidimensionale Formen zu fungieren. Trotzdem habe ich auch in diesem Fall keine Kontrolle darüber, wie der Computer das lateinische Gedicht interpretieren wird – die letztendliche Gestalt der Skulptur ist das Ergebnis einer Metamorphose von Daten festgelegt durch die Einstellungen meines 3D-Druckers.
Auf eine gewisse Art und Weise fassen diese vier Projekte nicht nur mein Konzept von Skulpturen zusammen, sondern auch das Konzept meiner künstlerischen Produktion im Allgemeinen. Sie drücken aus, wie ich Konzepte verwirkliche und mit diesen neue Möglichkeiten ästhetischer Erfahrung. Und sie zeigen meine Bemühungen zu fixieren – wenn auch nur für einen kurzen Moment – welche Prozesse und Vorgänge sich ständig jenseits meiner direkten Kontrolle entfalten.
Autor: Emilio Vavarella ist ein italienischer Künstler im Spannungsfeld zwischen interdisziplinärer Kunstpraxis, theoretischer Forschung und Experimentieren mit Medien. Fürs sculpture network stellte er sich die Frage, wie und warum sich Kunstwerke als Skulptur qualifizieren.
Dieser Artikel wurde im Juli 2021 veröffentlicht.