Kunst als Einheit von Denken, Sehen und Fühlen?
Auf Entdeckungsreise zu Skulptur und Architektur Teil 2: Die Sammlung Augengefühle im Neuen Museum Nürnberg.
Ich sitze in der Bahn – neben meinem Vater, der heute aus heiterem Himmel entschieden hat, mit mir ins Museum zu kommen. Die Strecke ist mir wohlvertraut: von meinem Elternhaus auf dem Land mit dem Regionalexpress nach Nürnberg, knapp 20 Minuten dauert die Fahrt. Als Teenager war es immer ein Abenteuer, allein mit der besten Freundin in den Zug zu steigen und in der großen Stadt shoppen zu gehen. Nur einen Katzensprung vom Hauptbahnhof entfernt, in Sichtweite des Ladens, in dem wir uns früher mit Plastiksonnenblumen und Pippi-Langstrumpf-Postern eingedeckt haben, steht ein Museum. In den Räumen dieses Kunsttempels wurde zu Schulzeiten mein Interesse an zeitgenössischer Kunst geweckt. Heute steuern wir direkt, ohne Shopping-Stopp darauf zu: das Neue Museum – Staatliches Museum für Kunst und Design Nürnberg.
Die Architektur stammt vom in Berlin lebenden Architekten Volker Staab. 1990 schrieb die Stadt Nürnberg einen Wettbewerb für den Museumsbau aus, zehn Jahre später, am 15. April 2000, wurde das Gebäude eröffnet. Höchsten Wiedererkennungswert hat die beeindruckende, 100 Meter lange, leicht geschwungene Glasfassade, die sich hervorragend in die mittelalterliche Architektur der umliegenden Gebäude und der Stadtmauer einfügt.
Alle Stockwerke, sowie die den Innenraum prägende, große Wendeltreppe aus Beton sind von außen einsehbar. Die Räume sind großzügig und schlicht gestaltet, gleichen oft dem idealen White Cube.
Die Skulpturen sind Teil der Sammlung Augengefühle. Im Ausstellungstext ist zu lesen, dass der Titel eine poetische Metapher ist, die von der Dichterin Friederike Mayröcker geschaffen wurde und die Einheit von Denken, Sehen und Fühlen beschreibt. Das Besondere an dieser Ausstellung: das Architektenehepaar Kerstin Hiller und Helmut Schmelzer hat die gezeigten Werke eigens für die Räumlichkeiten des Museums angekauft. Die ideale Sammlung also für den zweiten Teil meiner Entdeckungsreise Skulptur und Architektur.
In der Ausstellung stolpern wir fast über die erste Arbeit, And Babies des amerikanischen Künstlers Michael E. Smith. In einer Reihe weisen ein Dutzend stacheliger, präparierter und aufgeblasen wirkender Kugelfische am Boden liegend den Weg in den Ausstellungsraum. Die Fische scheinen durch ihre hellen Dornen wenige Zentimeter über dem dunklen Museumsboden zu schweben.
Geht man einige Schritte weiter, werden auch die anderen beiden Teile der Arbeit sichtbar: auf einem Sockel liegt ein Kehrbrett, dessen Henkel mit einem Storchenschnabel ergänzt wurde und an einer Wand hängt ein schwarzes Sweatshirt, auf dessen Brust 6 LED Lampen leuchten.
Auf der riesigen Fläche wirken Kugelfischparade, Kehrbrett und Sweatshirt etwas verloren. Gleichzeitig werden die bearbeiteten Alltagsgegenstände durch den sakral anmutenden Museumsraum stark aufgewertet, fast schon aufgeblasen, wie die Kugelfische selbst. Die Positionierung der Werke ist gerade an der Grenze zwischen zu weit entfernt um den Zusammenhang zu sehen und gerade richtig um die Wirkung vollkommen zu entfalten.
Am leuchtenden Pullover vorbei, in einem wesentlich kleineren Raum, befinden sich zwei Arbeiten des italienischen Künstlers Michelangelo Pistoletto. In Metamorfosi wird ein Berg Klamotten mit zwei Spiegeln in eine knallbunte und eine weiße Hälfte geteilt. Im ersten Moment wirkt der Berg auf mich, als sei die bunte Seite mit einer ordentlichen Portion Bleichmittel gewaschen und auf der anderen Seite gespiegelt worden.
Bei genauerem Hinsehen erkenne ich aber die unterschiedlichsten Stoffe und Klamotten: auf der einen Seite helle, meist weiße Textilien, zarter Tüll, blassgelbe Pailletten, Bettlaken mit eingestickten Initialen, Frotteetücher, hie und da ein sanft farbiger Rand oder Drucke auf weißen T-Shirts. Auf der gegenüberliegenden Seite trifft ein wild geblümtes Taschentuch auf eine rosa Fließjacke, ein Oberteil mit Leopardenmuster auf einen mintgrünen Bademantel.
Bei der Umrundung des riesigen Wäschebergs fällt mir auch die zweite Arbeit des italienischen Künstlers auf: An der Wand lehnt ein etwa zwei Meter hohes Bild, darauf zu sehen eine Lampe und ein grauer, aus großen Fließen bestehender Boden. Erst auf den zweiten Blick fällt mir auf, dass die Stehlampe auf einen Spiegel, genauer auf eine polierte Stahlplatte gemalt wurde und sich unten im Bild der Museumsboden spiegelt. In beiden Arbeiten perfektioniert Michelangelo Pistoletto das Spiel mit Spiegel und Realität, mit Raum, Bild und Betrachtenden.
Über sich selbst sagt der Künstler: "Wenn die Kunst der Spiegel des Lebens ist, dann bin ich der Spiegelhersteller."
Weiter geht es in die Raum-in-Raum Installation As far as possible von Rosemarie Trockel. Offen sichtbar wurde für die Arbeit ein Kubus aus Holz in den bestehenden Ausstellungsraum integriert. Auf der Innenseite komplett weiß gekachelt erinnert er an ein steriles Badezimmer. Neben einer kopfüber von der Decke herabhängenden Plastikpalme befinden sich drei Arbeiten der Künstlerin an den Wänden: Ein Vogelkäfig mit drei ausgestopften Singvögeln, eine Reproduktion von Courbets Der Ursprung der Welt (von der Künstlerin ergänzt durch eine Vogelspinne im Schritt der Frau) und eine weiße Keramikschale die an einen überdimensionierten Weihwasserkessel erinnert. Als ich mich dem Käfig nähere, ertönt ein Zwitschern aus der Richtung einer der Vögel. Ich betrachte die Tiere und ihre Umgebung eine Weile, da beginnt einer von ihnen mechanisch eine Strecke entlang eines Baumstamms zu fahren. Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen, von den drei Vögeln zu der Spinne zwischen den Beinen der Frau, über die Palme bis zur glasierten Keramikschale. Ein skurriles, vieldeutiges Ensemble von Werken in einem sterilen Zimmer.
Kunst und Raum
Nach einer kurzen Stippvisite durch die anderen Räume der Sammlung kehre ich mit meinem Vater zu den Kugelfischen zurück, wir wandern langsam die Wendeltreppe hinunter zum Ausgang und diskutieren über den Titel der Ausstellung: Augengefühle. Schaffen die Werke und deren gezielte Präsentation in den Räumen tatsächlich die beschriebene Einheit von Denken, Sehen und Fühlen?
in Rosemarie Trockels Installation
As far as possible. Foto: Georg Pilhofer
Wir sind uns einig, dass die Arbeiten professionell und extrem gut inszeniert wurden. Die Zusammenarbeit des kunstsammelnden Architektenpaars und dem Museum hat wertvolle Früchte getragen. Den Werken ist allerdings nicht anzusehen, dass sie speziell für dieses Museum, den jeweiligen Raum gekauft wurden. Dies tut der Qualität der Schau aber keinen Abbruch – im Gegenteil. Vielleicht ist das Konzept genau damit aufgegangen, dass es nicht im Vordergrund sichtbar ist. Das Zusammenspiel von Raum und Werk drängt sich nicht auf und erlaubt den BetrachterInnen so sich eigene Gedanken zu machen, die Arbeiten zu sehen und sich auf das Gefühl Kunst einzulassen. Ganz im Sinne des Ausstellungstitels Augengefühle und meiner persönlichen Lieblingsdefinition von Kunst als sinnlich wahrnehmbaren Denkgegenstand. (Jean-Christophe-Ammann, Bei näherer Betrachtung: Zeitgenössische Kunst verstehen und deuten, Piper Verlag München, 2009)
Autorin: Elisabeth Pilhofer
Elisabet Pilhofer ist freischaffende Redakteurin und Kuratorin in München. Diesen Sommer macht sie sich auf die Suche nach Orten an denen sich Skulptur und Architektur begegnen.
Wenn nicht anders gekennzeichnet stammen die Fotos von der Autorin.