Künstler statt Raketen? – Die russische Kunstszene im Umbruch
Warum Russland mit seinen Kunstschaffenden werben sollte und nicht mit seinen Raketen - ein Interview mit Simon Mraz
Leicht hatte es russische zeitgenössische Kunst noch nie: Ihre Geschichte ist geprägt von Ups und Downs und bleibt in der heutigen internationalen Wahrnehmung weitestgehend unterschätzt.
Als Gegenbewegung zum Sozrealismus entstand in der UdSSR in den 1950er Jahren eine Kunstrichtung, die zunächst als Nonkonformismus oder inoffizielle sowjetische Kunst bezeichnet wurde. Als offiziell einzig erlaubter Stil zeigte der Sozrealismus vorzugsweise Arbeiter in Fabriken, Soldaten oder heroische Porträts oberster Führer der Oktoberrevolution – ohne jegliche Form von freier Abstraktion. Wer sich diesem Stil nicht konform zeigte, durfte weder Farben noch Pinsel erwerben, geschweige denn öffentliche Ausstellungen organisieren oder Werke verkaufen. Ausstellungen in privaten Wohnungen waren für diese KünstlerInnen dabei die einzige Möglichkeit ihre Werke zu zeigen. Und das auch nur vor einem Publikum aus gleichgesinnten Kollegen und Freunden.
Einen regelrechten Hype erfuhren russische Nonkonformisten mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Sotheby’s Auktion 1988, die einen Wendepunkt für viele noch unbekannte Künstler bedeutete und erstmals internationale Aufmerksamkeit auf zeitgenössische russische Kunst lenkte. KünstlerInnen wie Jewgeni Jufit, Olga Florenskaja, Aidan Salachowa und Erik Bulatow traten auf die Bühne und begannen mit KünstlerInnen aus aller Welt zu diskutieren. Mit der Wirtschaftskrise 2008 jedoch kam es auch für den Kunstmarkt zu einem Einbruch; russische zeitgenössische Kunst verlor nationales wie internationales Interesse. Der Kunstmarkt rehabilitiert sich seitdem nur sehr langsam.
Tatsächlich wurden aber in den letzten Jahren viele Galerien und Museen eröffnet, zumeist von Frauen oder Freundinnen russischer Oligarchen, die das Prestige und die Präsenz moderner Kunst in Russland steigerten. Einige dieser privaten Initiativen mussten bereits nach kurzer Zeit wieder schließen oder verwandelten sich in kommerzielle Galerien. Es mangelt teilweise an nötigem Knowhow, an öffentlichem Interesse und vor allem an Unterstützung, wodurch die Weiterentwicklung und Internationalisierung der russischen Kunstwelt blockiert wird. Aber es gibt Hoffnung:
Simon Mraz ist seit 2009 in österreichischer Mission in Moskau unterwegs und hat hierbei die russische Kunstszene als persönliche Herzensangelegenheit für sich entdeckt. Seine Wohnung im historischen Haus an der Uferstraße (russ.: dom na naberezhnoj) hat sich in eine Art Galerie verwandelt, in der der Österreicher russischen Künstlerinnen und Künstlern eine Plattform zur Präsentation bietet. In einem Interview mit sculpture network erzählt er von seinen Eindrücken der Moskauer Kunstszene und welche Hoffnungen es für russische Künstlerinnen und Künstler gibt.
Herr Mraz, Sie arbeiten seit 2009 als Kulturattaché der österreichischen Botschaft in Moskau. Wie war Ihr erstes Aufeinandertreffen mit der russischen Kunst- und Kulturszene?
Ich selber habe ja einen Hintergrund als Kunsthistoriker. Ich habe vor der Wirtschaftskrise für ein Auktionshaus gearbeitet und wir haben Alte Meister und Silber nach Russland verkauft. Als ich hierhergekommen bin mit einer neuen Aufgabe, nämlich österreichische Kunst nach Russland zu bringen, habe ich auf kein Network zurückgreifen können. Ich habe dennoch sehr schnell über Orte erfahren, an denen zeitgenössische Kunst eine Rolle spielt oder die ihr eine Plattform geben. Es sind mehr geworden seit 2009, das sicherlich, aber es waren damals so wenige, dass ich eigentlich sehr schnell an wenigen Plätzen meinen Einstieg finden konnte.
Wie war der Zugang zu den KünstlerInnen selbst?
Ich habe mich darauf konzentriert, so bald wie möglich KünstlerInnen kennen zu lernen. Mit den kreativen Leuten in Kontakt zu kommen, ist ja auch das Ausschlaggebendste. Und die Leute sind sehr offen. Kunstschaffende haben ja grundsätzlich den Drang, ein Publikum zu finden. Diese Offenheit war für mich trotzdem eine Überraschung; wenn man an New York denkt, da kann man Top-KünstlerInnen nicht einfach mal so erreichen und wird zu ihnen nach Hause zu einem Gespräch eingeladen. Aber hier ist das möglich.
An welchen Orten finden Sie interessante Künstlerinnen und Künstler?
Ich versuche ja immer junge Kunstschaffende in meine Wohnung zu bekommen, damit sie dort eine Ausstellung machen. Die Kunst gehört dem Künstler, aber er muss seine Freunde einladen. Gute KünstlerInnen kennen meistens gute KünstlerInnen. Das ist eine riesige Chance neue Leute kennen zu lernen. Es gibt ganz wenige Off-Spaces, wo Künstlerinnen und Künstler sich selbst organisieren. Die meisten interessanten Leute, die ich kennen lernen konnte, kamen vom Institut für Probleme der modernen Kunst, kurz IPSI (russ.: Institut Problem Sovremennogo Iskusstva). Iossif Backstein, Mitgründer der Moskauer Biennale, hat dieses Institut mit dem Gedanken gegründet, dass es wichtig wäre, Leuten, die sich mit zeitgenössischer Kunst auseinandersetzen, eine theoretische Basis zu geben. Ebenso interessant ist die Rodchenko-Schule, eine Akademie für Fotografie und Multimedia. Das sind sehr gute Leute.
Spüren Sie einen Unterschied zu westlichen Museen für zeitgenössische Kunst, wenn Sie in Moskauer Museen, wie dem Garage oder MMOMA, unterwegs sind?
Ja mit Sicherheit, da ist ein Unterschied. In Moskau gibt es kein Museum, in dem man die westliche Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts sehen kann. Die wenigen Dinge, die es gibt, sind in St. Petersburg, wie etwa die Sammlung Ludwig. Die großen Museen wie die Tretjakow Galerie, die ja das Museum für russische Kunst ist, tasten sich jetzt langsam an das Thema zeitgenössische Kunst heran. Wenn man vor zehn Jahren durch die Tretjakow gegangen ist, hat man sich schwer gewundert, was hier als zeitgenössische Kunst gezeigt wird. Es gab einfach keinen abschließenden Diskurs darüber, was zeitgenössisch ist und was nicht. Hier konnte man noch bis vor kurzem verschiedenste Wälder und Seen betrachten, die als moderne Kunst Russlands ausgestellt wurden. Und erst jetzt, mit jungen MitarbeiterInnen und einer neuen Generaldirektorin, verändert sich auch das Gesicht des Museums. Das ist aber alles noch im Prozess, deswegen sieht das auch ein bisschen anders aus als in europäischen Museen.
Was hat sich seit 2009 in der Moskauer Kunstszene verändert?
Es sind nicht mehr dieselben Menschen. Mittlerweile sind zehn Jahre vergangen, die damaligen jungen KünstlerInnen sind jetzt älter. Die Zeit um 2009 war einfach grundsätzlich eine andere Zeit. Eine, in der es diese politischen Spannungen noch nicht gab. Kultur- und Kunstschaffen war kein großes Thema. Jeder hat gemacht was er wollte, so mehr oder weniger. Heute hat es sich dahin verändert, dass Kunst und Kultur einerseits ein kulturpolitisches Thema sind. Andererseits gibt es aus dem privaten Sektor sehr viel Engagement für die zeitgenössische Kunst. Der ganze Themenkomplex ist heute wesentlich präsenter als vor zehn Jahren.
Welche Bewegungen können Sie da wahrnehmen?
Wenn wir uns das MMOMA anschauen, da gibt es sehr viele junge Leute, die sehr engagiert sind. Erst letztens hat noch eine Filiale des MMOMA aufgemacht, ein Education Center. Dann gibt es die Biennale für junge Kunst. Dafür haben sie eine junge Italienerin, Lucrezia Visconte, engagiert. Das ist eine Hoffnung. Ebenso das Multimedia Museum, eine Initiative von Olga Sviblova. Dazu hat diese Frau es noch geschafft, eine sehr wichtige Schule aufzubauen, die ich bereits erwähnte, die Rodchenko-Schule. Aber leider werden diese Institute dann auch mit den Leuten, die sie gründen, älter. Das liegt in der Natur der Dinge, auch dass die Beiräte sich nicht unbedingt verjüngen. Dann ist noch die Cosmoscow zu nennen – eine sehr ambitionierte Messe – die einen Fokus auf russischer zeitgenössischer Kunst hat und sich zum Ziel setzt, diese Kunst würdevoll zu verkaufen. Es ist toll zu sehen, wenn russische Kunst schön und beleuchtet präsentiert wird – klingt sehr bescheiden, ist aber wichtig. Insgesamt ist alles ein irrsinniges Durcheinander, was für einen Menschen wie mich, der hier lebt, aber eben auch sehr charmant ist. Es gibt einen großen Drang, sehr viel sehr schnell zu lernen. Es gibt einen Purzelbaum und dann zwei Rollen rückwärts, gerne auch umgekehrt. Das Wichtigste ist: es ist etwas in Bewegung.
Gibt es auch Veränderungen von staatlicher Seite?
Nein, diese Veränderung bedeutet nicht, dass es jetzt eine größere staatliche Struktur gäbe die zeitgenössische Kunst fördert. Wie gesagt, staatliche Museen wenden sich zunehmend zeitgenössischer Kunst zu, allen voran die Tretjakow Galerie, das Puschkin Museum in Moskau, die Hermitage in St. Petersburg, das tapfere National Center of Contemporary Art, welches über ein sehr spannendes Programm insbesondere in den russischen Regionen bietet. Was in diesen Museen aber fehlt sind ein Ankaufsbudget für zeitgenössische Kunst und ein überlegtes Förderungsprogramm für zeitgenössische Künstler. Andererseits: Jeder „anständige“ Oligarch, der etwas auf sich hält hat ja auch eine Kunststiftung: Die V-A-C-Foundation, Botanin-Foundation, Garage, Kollekziya, um nur einige zu nennen. Die Allerreichsten sind mit der Förderung zeitgenössischer Kunst beschäftigt. Das ist ein interessantes Phänomen: Dieses private Engagement kompensiert in gewisser Weise die Rolle des Staates. Und hat eine Vorreiterrolle, die vielleicht den Staat merken lässt, dass es sich hier um eine spannende Sache handelt, die man unterstützen muss. Das ist alles eine sehr interessante Entwicklung.
Welche Kunst wird im Großen und Ganzen in Russland gesammelt? Auch zeitgenössische russische?
Der Großteil der lokalen Sammler konzentriert sich schon noch auf traditionelle russische Kunst. Zeitgenössische Kunst liegt wahrscheinlich so bei fünfzehn Prozent. Und da auch lieber zeitgenössische, westliche Kunst. Russische Kunst erscheint oft depressiv, da muss man in der Galerie schon anfangen zu weinen; das macht sich natürlich nicht gut im Chalet. Die russische Kunst ist auch viel zu billig. Sie kostet weniger als eine Krawatte. Und wenn man sein Badezimmer mit goldenen Armaturen ausgestattet hat, dann kann man den halben Kunstmarkt hier aufkaufen. Das alles ist natürlich nur eine Karikatur, die ich Ihnen hier aufzeichne, etwas überspitzt, aber es hat etwas Wahres an sich. Prestigekäufe von zeitgenössischer Kunst, das dauert noch ein bisschen für den russischen Kunstmarkt. Und die Kunstszene ist in einem Prozess. Wenn die mal entdeckt wird, dann hat sie auch eine Chance, anständiges Geld dafür zu bekommen. Das ist momentan aber noch ein eher kleineres Phänomen.
In einem Interview mit dem Calvert Journal sagten Sie, dass osteuropäische KünstlerInnen widerstandsfähiger sind als ihre westlichen Pendants. Ein Künstler in Osteuropa zu sein, sei viel härter. Ist das wirklich so?
Das war vielleicht ein bisschen radikal gesagt. Bei uns ist es ja auch nicht so rosig. Aber es gibt bei uns in Europa viele Institutionen und den Staat, die Künstlerinnen und Künstler fördern. Hier in Russland sind die Kunstschaffenden unglaublich gefordert zu überleben, sich durchzusetzen und durchzuhalten. Das ist eine materielle, aber viel mehr noch eine geistige Frage. Weil KünstlerInnen bei uns von Natur aus ein größeres Selbstbewusstsein haben. Weil sich ein Künstler oder eine Künstlerin im Westen berechtigterweise als ein wichtiger Teil der Gesellschaft sieht. Einfach aufgrund seiner/ihrer Arbeit. Weil man der Meinung ist, dass jemand, der Kunst schafft, ein essentieller Teil der Gesellschaft ist. Das ist etwas, was ich mir von Russland zutiefst wünschen würde, dass das Land seine KünstlerInnen heute auch als einen seiner wertvollsten Teile ansieht. Das ist, glaube ich, ein Unterschied. Daher finde ich es auch total wichtig, dass KuratorInnen oder MuseumsleiterInnen nach Russland kommen. Dass sie sich das nicht nur anschauen und wieder wegfahren, sondern sich auch dafür interessieren. Das ist sehr wichtig, um mehr Interaktion zwischen Europa und Russland stattfinden zu lassen.
Also fehlt hier sowohl das nationale als auch das internationale Interesse an russischer zeitgenössischer Kunst?
In Europa, da machen Sie die Zeitung auf und zum Thema Russland wird über die Wirtschaft geschrieben oder über die Politik. Es ist eine grundsätzlich permanent negative Präsenz Russlands in den Medien. Man sollte diese Präsenz auch nutzen, um über das kreative Russland zu berichten. Ich ärgere mich immer sehr, wenn es heißt „Putins Russland“. Man kann von Putin halten, was man will, aber es ist bitte nicht „Putins Russland“. Es ist genauso das Russland der jungen Raver, Subcultures, der Kunstschaffenden! Es gibt so wenige Leute, die das sehen und unterstützen. Das Problem ist, dass es für zeitgenössische Kunst keinen Motor gibt. Sie ist von der Politik nicht anerkannt und wird nicht als Teil der Identität gesehen. Es würde viel besser rüberkommen, wenn Russland weniger über seine Raketen erzählen würde, sondern mehr über seine kreativen Talente. Und es ist komisch, die Welt soll sich vor den Raketen fürchten und die Leute hier fürchten sich vor ihren eigenen KünstlerInnen. Das kann nicht funktionieren. Aber das wird sich auch noch ändern, ich bin Optimist. Ich bin überzeugt, dass das begriffen werden wird.
Und eine letzte Frage: Vor welchen Herausforderungen stehen Künstlerinnen und Künstler in Russland heute?
Sie stehen vor der Herausforderung noch zu erleben, dass zeitgenössische Kunst kein Feind ist, sondern ein ganz wesentlicher Faktor für die Zukunft dieses Landes. Fast hätte ich gesagt, es wäre die Aufgabe der Kunst, die Politik von ihrem Wert zu überzeugen, aber nein, ich glaube es ist genau umgekehrt. Es ist Aufgabe und Pflicht des Staates die Kunst wertzuschätzen. Derweil ist die Herausforderung für die kreative Szene, ihren Weg unbeirrt weiterzugehen. Und nicht zu verzweifeln, wenn es mit der Anerkennung nicht gleich klappt, sondern vielmehr an Mechanismen zu arbeiten, russische zeitgenössische Kunst international wahrnehmbar zu machen. An dieser Aufgabe können viele mitarbeiten, vor allem auch KuratorInnen, Institutionen, BeamtInnen, SammlerInnen, MäzenInnen, und JournalistInnen.
Autorin: Charlotte Kromer
Charlotte Kromer ist unsere
Expertin für Osteuropa
und hat für uns mit Simon
Mraz gesprochen.