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“Ach du Scheiße!”: Risiko und britische Bildhauerei heute

Aus der Reihe „Kuratoren zur zeitgenössischen Skulptur in Europa“. Ein Text von Marsha Bradfield.

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Laure Prouvost, Wantee, 2013 Courtesy of the artist & MOT International

Im Terminal 2 des Flughafen Heathrow wurde im April dieses Jahres Richard Wilsons Kunstwerk Slipstream (Windschatten) enthüllt. Diese sich windende Aluminiumskulptur ist nicht nur das vermeintlich längste Dauerkunstwerk, sondern obendrein auch Europas größte privatfinanzierte Skulptur. (1) Für Wilson jedoch spielen solche Superlative eine eher untergeordnete Rolle was die Wirkung der Skulptur angeht. „Ich wollte die Passagiere zum Innehalten und zum Ausruf von „Ach du Scheiße!“ bewegen. (2)

Diese Bemerkung zeigt auf, dass sich die britische Bildhauerei seit der Zeit nach den Young British Artists zunehmend, fast zwanghaft, mit dem Thema Risiko beschäftigt.

Es war Wilson selbst, der mir im Juni 2013 das Thema Risiko als zentrales Anliegen ins Bewusstsein gerufen hat, als er am Pangaea Sculptor's Centre die Nomadic season of six sculpture-related events(etwa: Nomadische Saison von sechs Events aus dem Bereich Bildhauerei) ins Leben rief. Während seiner Tournee über sein öffentliches Auftragswerk Slice of Reality, ein vor der Landzunge von Greenwich ankerndes umgebautes Sandbaggerschiff, sprach Wilson vor angehenden Bildhauern. Mit Witz und Offenheit hat er die Herausforderungen beschrieben, die sich beim Umsetzen von langfristigen Großprojekten mit verschiedenen Interessenvertretern ergeben. Mit so vielen Unwägbarkeiten ist zu versagen genauso wahrscheinlich wie Erfolg zu haben.

Jene, die in der Welt der Kunst überleben, scheinen Risikotoleranz eher als kreatives Umgehen mit Risiko zu sehen, statt nach Wegen zu dessen Abschwächung zu suchen. Während diese Dinge sich nicht gegenseitig ausschließen, verstößt Risikoaversion gegen die von der Kunstwelt gehätschelten Glaubenssätze, die zeitgenössische Kunst als eine Enklave für kulturelles Experimentieren ansehen.

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Richard Wilson, Slipstream, 2014 - Heathrow’s T2 photo David Levene ©LHR Airports Limited

Diese Unterscheidung treibt das Pangaea Sculptors’ Centre an. Ziel der Londoner Initiative ist es, Bildhauer und andere dreidimensional arbeitende Künstler bei der Realisierung ehrgeiziger Projekte zu unterstützen, indem sie Werkstätten, Fachkompetenz und flexible Ateliers zur Verfügung stellt. PSC hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, das Zentrum für Bildhauerei in Großbritannien zu werden und sucht dafür nach einer festen Einrichtung. Bis dahin macht das Zentrum innovative Methoden ausfindig, die Risiko auf verschiedene Weise kultivieren und für deren Ausmaß und Komplexität Wilson nur ein Beispiel darstellt.

Lassen Sie uns Abigail Fallis betrachten. Ihre Skulpturen fordern die hochheiligen Werte des Readymade der zeitgenössischen Kunst heraus, indem sie humorvoll Gegenstände recycelt und dabei die Auswirkungen der Konsumgesellschaft auf die Umwelt kommentiert. Obwohl visuell verlockend, bergen Arbeiten wie DNA DL90, eine Doppelhelix aus Einkaufswagen, die Gefahr in sich, unser Gewissen zu piesacken. Sie machen Fallis Methoden aber auch verwundbar, denn man könnte sie als bloßen Dienst an der Öffentlichkeit abtun, statt sie als Schaffung zeitgenössischer Kunst zu sehen.

Und da gibt es die Gewinnerin des Turner Prize von 2013 Laure Prouvost. Ihre Videoinstallation Wantee stellt einen Tribut an ihren imaginären Großvater dar, ein enger Freund Kurt Schwitters. Es mag bloße Fiktion sein, aber ist es doch eine Tatsache, dass Prouvosts Installation skulpturale Gegenstände vermenschlicht, um dabei zu erforschen wie persönliche Beziehungen die Aura eines Gegenstandes verstärken können und wie Bildhauerei soziale Beziehungen organisiert.

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Slice of Reality, Greenwich Peninsula, London, 2000  photo Dominic Tschudin

Obwohl sich Prouvost, Fallis und Wilson in ihrem Engagement unterscheiden, ist doch allen drei Künstlern gemeinsam, dass sie dem Risiko ins Auge blicken. Dies übertrifft die themenbezogene Kritikalität mit deren auf Metaebene operierenden Methoden, die Definition und Funktion der heutigen britischer Skulptur infrage zu stellen. Einige mögen argumentieren, dass etablierte Künstler wie sie besser aufgestellt sind, ein größeres Risiko zu schultern. Wenn man sie jedoch mit den YBA vergleicht, die sich immer noch an Schock als ihr modus operandi klammern, dann scheint es, dass das was Prouvost, Fallis und Wilson hervorrufen näher an Ehrfurcht heranreicht. Das  „Ach du Scheiße!“, um das ihre Skulpturen bitten, spricht das kreative Risikomanagement der Künstler an und fordert uns auf, es ihnen gleich zu tun, indem wir uns weigern auf Nummer sicher zu gehen.

__________

1 Slipstream erstreckt sich über 80 Meter mit einem Gewicht von 77 Tonnen und macht es damit zum längsten Dauerkunstwerk. Es ist ebenfalls die größte privatfinanzierte Skulptur in Europa mit Kosten von 2,5 Mio. Pfund. Oliver Wainright, „Richard Wilson: Ein Margarinebehälter stellt den Anfang meiner riesigen Heathrow-Skulptur dar.,” The Guardian, Mittwoch, 23 April 2014.
www.theguardian.com/artanddesign/2014/apr/23/richard-wilson-slipstream-heathrow-installation 

 ebd.

Vom Kurator ausgewählte Künstler:

Phyllida Barlow (1944, GB)
www.hauserwirth.com

Cornford and Cross - Matthew Cornford & David Cross- (both 1964, GB)
www.cornfordandcross.com

Grizedale Arts (founded in 1974, GB)
www.grizedale.org

Abigail Fallis (1968, GB)
www.pangolinlondon.com

Alex Hartley (1963, GB)
www.alexhartley.net

muf architecture/art -Katherine Clarke & Liza Fior- (founded in 1994, GB)
www.muf.co.uk

Rachel Pimm (1984, Zimbawe)
www.rachelpimm.com

Laure Prouvost (1978, Frakreich)
www.laureprouvost.com

Public Works -Andreas Lang & Torange Khonsari- (founded in 1999, GB)
www.publicworksgroup.net

Richard Wilson (1955, GB)
www.richardwilsonsculptor.com

Marsha Bradfield
Postdoktorandin am Chelsea College of Arts, University of the Arts London

Co-Direktorin des Pangaea Sculptors' Centre
www.pangaeasculptorscentre.com

Gefördert von Marsha Bradfield (Kuratorin) und Lucy Tomlins (Produzentin), fand ON YOUR MARKSzwischen Juli 2013 und Januar 2014 in und um London statt. Ziel der Nomadic season of events ist die Unterstützung der Skulpturpraxis durch Programme, die die Wahrnehmung des Schaffensprozesses dreidimensionaler Kunstwerke heute erforschen. Durch Führungen und Diskussionen, Workshops und Vorführungen hat sich das Projekt mit Skulptur aus verschiedenen mitunter sogar sich widersprechenden Perspektiven beschäftigt.

www.pangaeasculptorscentre.com

Event 1: Tea and a Slice of Reality mit Richard Wilson (Juni 2013)

Event 2: True Or False: There’s No Such Thing as Sculpture.
Eine kuratierte Unterhaltung mit Liliane Lijn, Elizabeth Neilson, Ossian Ward, Toby Ziegler und Sacha Craddock als Moderator (Juli 2013).

Event 3: Sculptour: A tour of Roche Court (August 2013)

Event 4: How did you do that? 
Ein künstlerischer Erfahrungsaustausch, Teil des Art Lick Wochenendes (Oktober 2013)

Event 5: Both Sides Now: Erforschen der architektonischen Aussage als ein Ansatz der skulpturalen Produktion mit einem zweitägigen Workshop zum Betongießen (Dezember 2013)

Event 6: Are you sitting Down: Eine Vorführung von Skulptur als bewegliches Bild (Januar 2014)

Co-Kurator von The Chosen, The Red Gallery, London, GB (August 2011)

Kurator von influx für Hackney Transients Art Project, London, GB (2008-2009)

Wenn Sie Marsha Bradfield kontaktieren möchten, schreiben Sie bitte an info@sculpture-network.org

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