Tamara Jacquin – Kunst als Mittel der Entfaltung und Befreiung
Im Rahmen der spanischen Kunstmesse für dreidimensionale Kunst SCULTO wurde der sculpture network Award an Tamara Jacquin vergeben. Sculpture network hat die aufstrebende, talentierte Künstlerin interviewt, um mehr über ihr vielseitiges Werk zu erfahren.
Tamara Jacquin wuchs in einer Kleinstadt in Chile auf und hatte schon immer große Freude daran, mit ihren Händen zu arbeiten und auf diese Weise kreative Prozesse anzustossen. Gleich zu Beginn Ihres Architekturstudiums wurde ihr bewusst, dass sie Künstlerin und nicht Architektin sein wollte. Die Begegnung mit Werken von Rebecca Horn sowie ein einjähriger Aufenthalt in Frankreich bekräftigten diese Entscheidung. Nach ihrem Bachelor-Abschluss in Architektur entschloss sie sich, ihr Glück in Europa zu versuchen und dort ihrem kreativen Wissensdurst und Schaffenswunsch freien Lauf zu lassen. Daraufhin absolvierte sie einen Master in Artistic Production sowie in Art Research and Creation.
Ihre Arbeiten speisen sich aus persönlichen Erfahrungen und sind stark auf ihren eigenen Körper bezogen. Mit großem handwerklichem Geschick konstruiert sie ästhetische Werke, die bewegen und mitreißen. Besonders die Kombination von physischen Objekten und Performance erzeugt beeindruckende Effekte. Durch ihre Fähigkeit, menschliche Belange auf einer zutiefst persönlichen Art und Weise zu enthüllen und zu thematisieren, bauen ihre Arbeiten eine Beziehung zum Betrachter auf und erzeugen große Anziehungskraft.
Tamara Jacquin wird von der Galerie EST ART SPACE in Madrid vertreten.
Wie hat das Architekturstudium Sie geprägt und inwieweit beeinflusst es immer noch Ihre Kunstwerke?
Nun, es hat mich definitiv geprägt. Meine Gedanken drehen sich ständig um Struktur und Raum. Ich liebe es einfach, Dinge zu bauen und ich liebe dreidimensionale Objekte. Ich schätze, das kommt von der Architektur. Auch wenn ich mit etwas Zweidimensionalem arbeite, wie einem Bild, versuche ich einen Weg zu finden, wie es zum Objekt werden kann. Ich glaube, dass der Zugang zu einem dreidimensionalen und zu einem zweidimensionalen Bild unterschiedlich ist. Für mich ist es also wirklich wichtig, wie das Kunstwerk im Raum steht und wie der Betrachter sich ihm nähert. Es ist ein Spiel. Für mich ist das Nachdenken darüber, wie die Menschen mit dem Kunstwerk interagieren, dasselbe wie im Architekturstudium, als wir uns Gedanken darüber machten, wie die Menschen einen Raum bewohnen und ihn dadurch gestalten.
Welche Bedeutung hat Kunst für Sie persönlich?
Möglicherweise ist Kunst eine Reflexion. Das Spiegelbild der "Seele" einer Gesellschaft. Sie zeigt uns aus einer poetischen und ästhetischen Sprache heraus, wer und wie wir sind, was wir denken, was uns bewegt, was wir glauben oder was uns in diesem Moment wichtig erscheint. Deshalb ist Kunst zeitspezifisch und verändert sich mit der Entwicklung oder besser gesagt mit der Verwandlung der Menschheit. Deshalb muss Kunst für mich auch immer eine Bedeutung haben und in Kontakt mit dem Betrachter treten. Es spielt keine Rolle, ob sich Kunst dem Betrachter intellektuell oder emotional nähert. Eine kleine Reaktion ist manchmal alles, was nötig ist. Kunst ermöglicht Zusammenstöße mit Realitäten die so zuvor vielleicht noch nicht erlebt worden sind, oder Sie stellt Gedanken aus ungewöhnlichen Perspektiven dar. Insofern ist Kunst immer auch eine Form des Wissens. Für mich persönlich als Künstlerin bedeutet Kunst auch die Möglichkeit zu haben, alles was mich erstickt zu steuern und das Flüstern, das mich quält, aus meinem Körper heraus zu leiten. Es ist sowohl ein Mittel zur Entfaltung sowie zur Befreiung.
Wie beginnen Sie Ihren kreativen Prozess?
Das ist schwer zu sagen. Ich betrachte den kreativen Prozess als immer aktiv, denn eine Idee ist immer mit einer anderen verbunden und eine andere mit einer weiteren. Ich glaube nicht, dass man immer nur eine Idee hat, diese zu Ende bringt und dann nach einer neuen sucht. Der kreative Prozess ist immer im Gange, und häuft sich an. Tatsächlich habe ich Notizbücher mit Ideen. Ich schreibe sie immer auf, denn ich kann sie nie alle auf einmal verwirklichen. Einige werden vergessen, andere stehen auf der Warteliste. Einige sind umsetzbar, andere nicht. Für mich beginnt der kreative Prozess mit der Idee. Wenn sie einem nicht ausgehen, endet der Prozess nie. Wenn ich ein neues Projekt entwickeln will und nicht weiß welches, dann deshalb, weil ich es vergessen habe. Ich habe ein sehr schlechtes Gedächtnis, deshalb schreibe ich meine Ideen auf. Ich lese sie noch einmal und wähle eine Idee aus. Dann geht der Prozess weiter.
Auf Ihrer Webseite geben Sie an, dass der Körper für Sie am realsten ist. Auch viele Ihrer Werke beziehen Ihren eigenen Körper mit ein und er wird oft in extreme Situationen gebracht (z. B. nackt in der Kälte, barfuß im Schnee oder das Entwachsen der Schamhaare). Können Sie mehr darüber erzählen? Und betrachten Sie den menschlichen Körper als Kunst?
Ich denke, dass alle äußeren Erfahrungen und der Gegenstand einer Sache zuerst durch den Körper gehen müssen. Der Körper ist der große Empfänger, derjenige, der alles aufnimmt, und somit zum Behälter unserer Erfahrungen wird. In unserem Körpern gibt es eine Ansammlung an inneren Erfahrungen, die von äußeren Erlebnissen beeinflusst werden und umgekehrt, sodass beide miteinander kommunizieren. All dies manifestiert sich im menschlichen Körper. Der Körper als lebendiges Objekt ist der erste Filter der äußeren Realität aber auch die letzte Schutzschicht dessen, was im Inneren passiert. Ich betrachte den menschlichen Körper nicht als Kunst, aber als ein Medium kann er Kunst ermöglichen.
Manchmal, wenn mein Körper Teil eines Werkes ist und ich ihn extremen Bedingungen aussetze, dann tue ich das, um ihn so zu zeigen wie er ist, zerbrechlich und sensibel. Ich möchte sehen, was die Welt mit ihm macht, die Umgebung, der Wind oder der Schnee. Alles beeinflusst unseren Körper, aber gleichzeitig dient er als Instrument der Manifestation und der Projektion. Auf persönlicher Ebene lerne ich viel über mich selbst, über meine Grenzen und über die Fähigkeiten meines eigenen Körpers. Auf der Bildebene kann der Körper sehr kraftvoll sein, da der Betrachter dieselben Dinge am eigenen Leib spüren kann, auch wenn er sie nicht selbst erlebt hat. Der eigene Körper ist einem sehr nah, sodass es leicht fällt, sich in andere hineinzuversetzen und sich in ihnen zu erkennen. Die Erfahrungen des Körpers sind keine Repräsentationen, sie sind Realität, das macht ihn so mächtig. Deshalb gehen sie unter die Haut.
Die Natur wird oft zu einem wichtigen Teil Ihrer Kunst. Fühlen Sie sich mit der Natur besonders verbunden?
Ich glaube schon. In letzter Zeit fühle ich, mehr denn je, eine sehr starke Verbindung zur Natur. Beinahe wie eine Berufung. Das Komische ist, dass diese Verbindung in meiner inneren Vorstellung nicht die zu irgendeiner Natur ist, sondern zu der Erde, zu dem Land, aus dem ich komme. Das Land mit dem ich mich verbunden fühle, ist sehr weitläufig, es ist Teil der Anden und es reicht bis zum Pazifischen Ozean. Dieser Ort besitzt etwas magisches, das sich nicht einfach beschreiben lässt und in letzter Zeit, mehr denn je, kehrt er auf beständige Weise in mein Gedächtnis zurück. Ich bin seit mehr als zwei Jahren nicht mehr in Chile gewesen und vermisse diese allgegenwärtige Landschaft, die ich hier in Europa gesucht habe, aber nicht finden konnte. Obwohl ich an wunderbaren Orten war, ist es nicht dasselbe. Dieser Boden hat etwas Besonderes, als hätte er ein Eigenleben. Das ist es, was ich vermisse und es spornt mich an, zurückzukehren und mit dieser Natur zu arbeiten.
Was gefällt Ihnen und was gefällt Ihnen nicht am Künstlerdasein?
Was ich am meisten mag, ist die Freiheit, die es einem erlaubt, in allen Bereichen des Lebens, einschließlich der eigenen Arbeit, Künstler zu sein. Was ich am wenigsten mag, ist die Unsicherheit, die irgendwie die Folge dieser Freiheit ist.
Sie verwenden oft unterschiedliche Gestaltungsmittel in Ihren Werken. Gibt es eine Methode mit der Sie am liebsten arbeiten?
Mir gefällt das Verfahren am besten, welches ich am wenigsten beherrsche. Ich versuche mich ständig weiterzuentwickeln und führe neue Techniken in meine Werke ein. Ich bin sehr motiviert, neue Gestaltungsmethoden zu erlernen und damit zu experimentieren, so dass das Werkzeug, das ich zu beherrschen versuche, immer mein Lieblingswerkzeug sein wird.
Woran arbeiten Sie im Moment?
Ich habe gerade das Pilotenküche Artist-in-Residence-Programm in Leipzig abgeschlossen. Für drei Monate arbeitete ich an einem Projekt namens Dreaming the Forest. Das Projekt hat mit der bereits erwähnten Bindung zur Natur zu tun. Ich nehme an, für mich ist dieses Projekt eine Suche nach dem, was meine Erinnerung mir zeigen will, ich selbst aber nicht sehen kann. Deshalb empfinde ich es als eine Art Gedächtnisarbeit, als eine Übung, sich an die Natur zu erinnern und zu versuchen, sie hier, in der Stadt, zugänglich zu machen. Bisher habe ich mich allerdings vor allem mit einer speziellen Erfahrung beschäftigt, die Erfahrung, einem Baum gegenüber zu stehen. Ich konzentrierte mich auf die Geste, die der Körper macht, wenn er von vorne auf einen Baum blickt und mit den Augen und dem ganzen Körper seiner Form folgt - auf eine Reise geht - bis der Blick in den Himmel entweicht. Dann kommt die Erinnerung an die Farben der Blätter, das tiefe Blau des Himmels, die Empfindung des Windes, das Geräusch des Waldes, der Geruch der Erde usw. zu mir zurück. Natürlich ist all dies nicht leibhaftig in meiner Arbeit. Das Werk, das Bild ist eher wie ein Traum, ein Anker für diejenigen, die sich ihm gegenüber stellen, um auf diese Erinnerungen zuzugreifen. Wir alle sind irgendwann in unserem Leben in einem Wald gewesen. Das Kunstwerk soll sich mit diesen Erinnerungen verbinden. Materiell gesehen ist es ein skulpturales und installatives Projekt. Ich brachte eine Schwarz-Weiß-Fotografie mit Holzstrukturen auf Seide. Ein Teil der Serie besteht aus einer Video-Performance, die auch auf Seide projiziert wird. Ich arbeite mit Seide, weil ich die Textur und das geringe Gewicht sehr mag. Das Ergebnis erscheint leicht, zerbrechlich, zart und weich mit nur wenigen materiellen Teilen. Mein Plan ist es, dieses Projekt weiter zu entwickeln. Jetzt reise ich für zwei Wochen nach Chile und möchte dort die Naturreservate im Süden besuchen, viel Gestaltungsmaterial einfangen, um weiter arbeiten zu können. Ich habe das Gefühl, dass dieses Material kraftvoller und inspirierender sein wird, da es das Land aus meiner Erinnerung ist.
Interview von Valerie Wahlroos
Valerie Wahlroos studierte Kommunikationsdesign in Augsburg und absolvierte ein Masterstudium in Arctic Art and Design an der University of Lapland. Sie unterstützte sculpture network für drei Monate im Kultur- Event- und Medienmanagement und sprach für uns mit Tamara Jacquin über Kunst, Körper und Ideen-Wartelisten.