Gläserne Karikaturen von Hans Jürgen Wolff
Seit mehr als fünfzig Jahren beschäftigt sich Hans Jürgen Wolff mit dem Werkstoff Glas. Mit seiner profunden Ausbildung als Kunstglasermeister fertigte er zunächst in einer eigenen Werkstatt in Kyritz/ Sechzehneichen Fenster in kirchlichem Auftrag, Glasbilder sowie Lichtobjekte.
Ab 1986 absolvierte er langjährige Stationen bei den Traditionsunternehmen Mayer‘sche Hofkunstanstalt und Bayerische Hofglasmalerei Gustav van Treeck. Parallel dazu begann Wolff, als freischaffender Künstler zu arbeiten. Gedanklich ging er von den bleigefassten Fenstern seiner beruflichen Tätigkeit aus: Er stellt die dargestellten Szenen frei von ihrem Rahmen, entfernt den Hintergrund, löst die Figuren damit aus ihrem starren Kontext.
In diesen eigenen Arbeiten nimmt Wolff seine ausgereiften kunsthandwerklichen Fertigkeiten bewusst zurück. Sie entstehen unter äußerst reduzierten Bedingungen, versetzen ihn in die Lage, spontan Ideen aufzugreifen und in Glas zu übertragen. Auf einen gezeichneten Entwurf in Originalgröße legt er eine passende Glasscheibe und überträgt die Linien durch Anreißen. Mal verwendet Wolff einseitig sandgestrahltes Fensterglas, mal klassisches Antikglas, mal recycelt er Strukturglas, etwa von einem Türfenster oder einem Kühlschrankboden, je nachdem, was er gerade da hat. Entlang der mit dem Glasschneider übertragenen Umrisslinien kneift er alles überschüssige Glas mit der Zange ab. Die ausgeflinsten Kanten beschleift er, so dass keine Verletzungsgefahr besteht. Zurück bleibt ihre unregelmäßige Kontur, in der sich einfallendes Licht bricht, ein gewünschter Effekt. Nun gestaltet er die sparsame Binnenzeichnung aller Einzelelemente mit einem Diamantstift. Die Ritzungen reibt er mit schwarzer Farbe aus. Dadurch erhalten die gläsernen Figuren einen grafischen Charakter. Überlappende Arme werden mit UV-Kleber appliziert, Kleidung und Haut der stilisierten Figuren rückseitig mit einem in Acrylfarbe getränkten Lappen oder Wattestäbchen koloriert. Ihre feinen Gesichter erhalten viel Ausdruck durch wenige Pinselstriche. Nahezu alle nicht figürlichen Requisiten bildet Wolff aus anderen Werkstoffen wie Holz, Pappe, Stoff, Draht u.ä. nach. Für den stabilen Sockel wählt er spontan Porenbeton, Wellpappe oder Vollholz.
(Foto: Verena Wasmuth)
Ebenso spontan und zufällig kommt es zur Wahl seiner Themen. Sie begegnen ihm bei der Zeitungslektüre, beim Anschauen der Abendnachrichten, bei der Beobachtung seiner Mitmenschen. Gemein ist ihnen eine gesellschaftskritische Note: Schlagzeilen und Zitate aus Berichten über das Gesundheitssystem, Geschlechterrollen, Partnerschaft, Migration, Parteiraison stellt Wolff situativ in Alltagsszenen nach, mal in einer Ebene gereiht, mal gestaffelt in die Tiefe. Seine Arbeiten gleichen Piktogrammen. Sie lassen sich lediglich aus einer einzigen Perspektive begreifen, bei einer seitlichen oder rückwärtigen Betrachtung erschließen sich die dargestellten Szenen nicht. Von Belang ist ihre Botschaft, deren Deutungshoheit beim Betrachter liegt. Als Gruppe arrangiert helfen die Bildwerke dabei, den eigenen Fokus zu überprüfen und damit zu weiten.
2008, 34 x 37 x 15 cm. (Foto: Verena Wasmuth)
Wolff nimmt eine Außenseiterstellung innerhalb der zeitgenössischen Glaskunstszene ein. Er wurde jahrelang von einer Galerie für bildende Kunst vertreten, ist kein Mitglied eines Glasvereins, ist unabhängig von Ateliergemeinschaften. Nach vielen Jahren in München und Berlin lebt und arbeitet er heute überwiegend in Wusterhausen/Dosse. Seine handwerklich unkonventionellen und oftmals unbequemen Werke rücken ihn ab von Künstlern, die virtuos den Fokus auf technologische Aspekte der Glasgestaltung legen. Tatsächlich dominieren die Inhalte seine Methodik. Hans Jürgen Wolff ist im besten Sinne ein Karikaturist in Glas.
Autorin: Verena Wasmuth
Der Artikel wird im Rahmen unserer Zusammenarbeit mit GLASHAUS – Internationales Magazin für Studioglas 1/2020 veröffentlicht.
Tirelbild: Hans Jürgen Wolff, „Nach der Scheidung“, 2019, 36 x 32 x 10 cm. (Foto: Verena Wasmuth)