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Die unendliche Form – Anthony Cragg

Book review: Anthony Cragg – Endless Form, Fondazione Constantino Nivola/Museo Nivola, June 2018.

Erscheinungsbild, Schaffungsprozess, Ort der Rezeption und der Status als visuelle Geschichtsschreibung sind das, was zusammenführt ein Kunstwerk definiert. Anthony Cragg zeichnet sich dabei durch eine lange experimentelle Entwicklungsphase in seinem Schaffen aus. Unter dem Dogma ein besseres Verständnis für seine Werke und aber auch für die Gesamtheit der Welt zu schaffen, bedient er sich eines heraklitanischen Ansatzes: die innere Kraft eines Materials, die rein kosmologische Energie, muss freigesetzt werden. Als Mittel dient ihm dabei die Form, die er als offenes Werden innerhalb einer komprimierten Zeit- und Raumabfolge definiert. Bewegungen, Aktionen und Metamorphosen bilden dabei seinen Hauptgegenstand. Die Oberfläche seiner Werke behandelt er dabei wie eine umhüllende Haut, die einen Blick tief ins eigene Innere führt. Um die Oberfläche zu durchdringen und das Objekt vollständig zu verstehen, müssen wir uns unserer eigenen Erfahrungen von Realität bedienen und diese noch verstärken. Das treibt uns an weiterhin nach dem Schaffensprozess zu fragen. Die Skulptur als materielle Projektion psychologischer und emotionaler Inhalte vermag aber noch viel mehr – eine Kommunikation und potenzielle Verbindung zum Raum und darüber hinaus auch zu anderen Werken.

Frequence, 1993, mixed materials, 400 x 500 x 250 cm. © Anthony Cragg | Photo: Tom Powel
Frequence, 1993, mixed materials, 400 x 500 x 250 cm. © Anthony Cragg
Photo: Tom Powel (Seite 81)


Bezugnehmend auf die Kunstwerke der Ausstellung „Anthony Cragg - Endless Form“, die im Juni 2018 in Sardinien ausgerichtet wurde, werden in den drei Kapiteln des gleichnamigen Buches die Wahrnehmung seiner Werke, der Entwicklungsprozess des Künstlers von den frühen 1960-er Jahren bis heute und seine Einordnung im kunsthistorischen Kontext erörtert. „Jede Art von Materie ist eine eigene Welt, ein eigener Mikrokosmos. Jedes zerfällt in Teilchen, jedes Teilchen in Atome und jedes Atom in was auch immer.“ Der erste Teil des Buches beschreibt das Zusammenspiel von Mikro- und Makrokosmos, das Anthony Cragg mittels intuitiver Wahrnehmung ersucht zu ergründen. Dabei bilden seine Werke eine Art Biomorphismus – eine Verschmelzung von Geometrie und Organischem. Kunststoffe, Glasfaser, Glas, Holz, Laminate, Stahl, Eisen und traditionelle Bronze werden rein rational durch den Künstler konzipiert. Eine recht überraschende Arbeitsweise für einen Künstler, dessen Werke doch sehr auf die intuitive Wahrnehmung setzen. Begründet liegt diese technische Arbeitsweise in der, im zweiten Kapitel umschriebenen, vorausgegangenen Technikerausbildung und einer späteren Mitarbeit in einem Chemielabor. Erst danach wandte sich Cragg dem Kunstschaffen zu.

Hedge, 2008, steel, 170 x 160 x 70 cm. © Anthony Cragg | Photo: Michael N. Richter
Hedge, 2008, steel, 170 x 160 x 70 cm. © Anthony Cragg
Photo: Michael N. Richter (Seite 15)

Waren seine früheren Arbeiten jedoch noch von Ausdruckslosigkeit geprägt, gab er sich schnell unzufrieden mit der rein konzeptionell-minimalistischen Ästhetik. So entwickelte sich für ihn die Form als ausdrucksgebende Konstante und bildete mit seinem Oeuvre eine Opposition sowohl zur Natur, als auch zur Industrie. Mit seinen zweidimensionalen Arbeiten, den Kunststoffmosaiken erregte er zum ersten Mal internationales Interesse als er 1988 den Turner-Preis als Vertreter Großbritanniens auf der Biennale in Venedig gewann. Doch statt sich auf seinem Erfolg auszuruhen, forderte er nach Weiterentwicklung – in die dritte Dimension. Als Motive dienten ihm dafür evozierte Profilerationen von Molekülen, zelluläre Formationen, Cluster von Kristallen, Land- und Meeresorganismen bis hin zu menschlichen Organen, die bis ad absurdum geführt werden. Der Leser erhält hier einen guten Überblick über die Entwicklungsphasen des Künstlers und grundlegende Charakteristika seiner Arbeit. Mit dem Jahr 1988 änderte sich aber noch mehr für Cragg. Er erhielt einen Lehrauftrag an der Kunstakademie Düsseldorf und änderte seine künstlerische Praxis in den folgenden Jahren radikal. Mit Morphing-Techniken und 3D-Modellierungen erweiterte er seinen experimentellen Modus. Zudem arbeite er fortan, wiederum rein analytisch, in sogenannten Holotypen – Skulpturenfamilien, die verbindende Elemente aufweisen, jedoch keinesfalls Archetypen darstellen. Die Metamorphosen seiner Werke nehmen weiterhin zu: das Objekt kann eine Figur sein, ein Kopf oder auch ein Organ, je nach Wahrnehmung der BetrachterIn. Mittels Vergleiche zu zeitgleichen Entwicklungen der Kunst wird im dritten Kapitel der kunsthistorische Kontext Craggs untersucht. Stets im Abgleich mit den vollfarbigen Illustrationen des Buches.

Complete Omnivore, 1993, plaster, wood, steel, 160 x 200 x 200 cm. © Anthony Cragg | Photo: Michael N. Richter
Complete Omnivore, 1993, plaster, wood, steel, 160 x 200 x 200 cm. © Anthony Cragg
Photo: Michael N. Richter (Seite 83)


In seiner Gesamtheit bildet das Buch „Anthony Cragg – Endless Form“ einen guten Einstieg in die Schaffenswelt des Künstlers. Fordert gleichzeitig aber auch Lust auf mehr. Die farbigen Illustrationen geben der LeserIn eine gute Vorstellung der Skulpturen wider, jedoch bleibt das Bedürfnis sich die Werke real anzuschauen bestehen. Interessant wären ausgiebigere private Rückbezüge des Künstlers auf seinen Entwicklungs- und Schaffensprozess gewesen, diese kommen im Buch eindeutig zu kurz.

 

Anthony Cragg - Endless Form
Edited by Giuliana Altea and Antonella Camarda. With an essay by Mark Gisbourne
In cooperation with Museo Nivola, Orani, Sardinia
Verlag Scheidegger & Spiess
ISBN 978-3-85881-834-8
Text in English

 

Cover picture: Caught Dreaming, 2006, bronze, 159 x 285 x 153 cm. © Anthony Cragg | Photo: Michael N. Richter (Seite 6-7)

 

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