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Liebe auf den zweiten Blick

Entdeckungsreise Skulptur und Architektur 1: Die Metallplastik Present Continuous und das Museum für Ägyptische Kunst München

Es ist ein sonniger Samstag in der bayerischen Landeshauptstadt. Auf den Wiesen zwischen den Museen des Kunstareals liegen Menschen und lesen, eine Gruppe Studierender spielt Volleyball. Es scheint, als hätte die Sonne alle Stadtbewohner raus aus ihren Wohnungen, auf Grünflächen und in die Außenbereiche von Cafés gelockt. Ich bin mit einer guten Freundin vor dem Museum für Ägyptische Kunst verabredet. In den kommenden Monaten möchte ich in der Reihe Entdeckungsreise Skulptur und Architektur dem Jahresthema von sculpture network auf den Grund gehen. Und wo könnte ich diese Reise besser beginnen als in meiner Heimatstadt München?

Auf Tuchfühlung mit
"Present Continous" (2011) von Henk Visch 

Die Skulptur die wir genauer unter die Lupe nehmen möchten, trägt den Titel Present Continuous und stammt vom niederländischen Künstler Henk Visch (*1950). Im Jahr 2011 wurde die 3,80 m hohe Aluminiumfigur als Teil des Skulpturenparks Pinakothek im Kunstareal installiert.

Die Architektur wurde im selben Jahr fertiggestellt. Der deutsche Architekt Peter Böhm (*1954) entwarf das Gebäude, welches sowohl die Hochschule für Fernsehen und Film als auch das Museum für Ägyptische Kunst beherbergt.

Der erste Blick auf die Skulptur und das Museum lag bei mir streng genommen schon eine Weile zurück – während meines Praktikums bei sculpture network fand ein Treffen der Koordinatoren statt, im Rahmen dessen wir das Ägyptische Museum besuchten. Mir war vor allem die einzigartige Verbindung der außenstehenden Figur mit dem unterirdisch liegenden Museumsraum im Gedächtnis geblieben. Der rote Stab verlängert sich durch die Erde hindurch in den Ausstellungsraum.
Mit diesem Bild im Gepäck laufe ich auf das Museum zu und bin im ersten Moment ziemlich enttäuscht. In meiner Erinnerung war die Figur viel größer und beeindruckender und auch die ersten Worte meiner Freundin nach unserer Begrüßung sind nicht gerade wohlgesinnt: „Du weißt, dass ich diese Skulptur ganz schrecklich finde, weil ich jedes Mal wieder denke, dass sie einen Blutstrahl kotzt?“ Die diversen Spitznamen der Münchner für dieses Kunstwerk (unter anderem „Kotzi“, „Arsch“ und „Kopfschuss“) unterstützen leider ihre Meinung.
Bei mir macht sich ein Gefühl von Ernüchterung breit. Sollte meine Entdeckungsreise zu Skulptur und Architektur wirklich mit „Kotzi“ vor dem Ägyptischen Museum beginnen?
Wir beschließen erst einmal die Sonne zu genießen, auf einer Dachterrasse mit Aussicht über die Stadt eine Kleinigkeit zu essen und mit gefülltem Magen der ganzen Expedition eine zweite Chance zu geben.

Blick in den ersten Ausstellungsraum und Ausschnitt
"ALL ART HAS BEEN CONTEMPORARY"
von Maurizio Nannucci

Der zweite Blick führt uns dann trotz Sonnenschein doch mit zufriedenen Bäuchen in das unterirdische Museum. Sowohl zum Eingang des Gebäudes, als auch in die eigentlichen Ausstellungsräume schreiten wir breite Freitreppen hinunter. „Mir gefällt dieses Runtersteigen in den Raum sehr, als würde man langsam auf eine andere Zeit vorbereitet werden,“ meint meine Begleitung beim Betreten der Sammlung. Zu Beginn werden wir dann auch gar nicht von alter ägyptischer Kunst, sondern von einem Werk des italienischen Konzept- und Lichtkünstlers Maurizio Nannucci (*1939) begrüßt. In großen, leuchtenden Lettern sieht man an der Wand den Schriftzug ALL ART HAS BEEN CONTEMPORARY (dt. Alle Kunst ist zeitgenössisch gewesen).

Ein sehr zuvorkommender Museumswärter weist uns auf die in den Boden eingelassenen bronzenen Wegweiser hin, welche uns den Rundgang durch die Sammlung zeigen. Obwohl wir uns unter der Erde befinden, sind die Räume lichtdurchflutet. Ein versenktes Atrium ermöglicht es dem Tageslicht, in die großen, sakral anmutenden Räume zu dringen. Neugierig erkunden wir die uralten Gegenstände aus der längst vergangenen Zeit der Pharaonen – präsentiert auf zum Bau passenden Sockeln aus schlichtem Beton. Die Architektur tritt zugunsten der Werke in den Hintergrund, unterstützt sie vielmehr noch durch kluge, schlichte Raum- und Lichtkonzeption.

Verbindung von Oberfläche 
und unterirdischem Museum

Im zweiten Teil der Sammlung fällt uns der rote, von der Decke hängende Stab auf: die Verlängerung von Present Continuous. Diese erinnert nun, im unterirdischen Museum stehend, keineswegs mehr an die zuvor assoziierten Bilder. Im Gegenteil: Unauffällig und doch deutlich sichtbar verbindet sie die Oberfläche, die Gegenwart mitten in der lebendigen Stadt, mit dem Unterirdischen, einem Museum, in dem Schätze aus unbegreiflich ferner Vergangenheit lagern. Beim weiteren Gang durch die Ausstellungsräume fällt uns diese Dimension der Zeit immer wieder auf. Wir stolpern über eine Formulierung in einem der beschreibenden Texte: „Schon drei Jahrhunderte später (...)“ und schmunzeln über dieses uns sehr fremde Verhältnis zur Zeit.

Zurück an der Oberfläche erforschen wir ein letztes Mal die Skulptur auf der Wiese. Auch an ihr hat die Zeit Spuren hinterlassen, der Regen zeichnet schwarze Linien auf das silbrig glänzende Metall. Eine kleine Tafel am Rand zum Gehweg verrät uns nun auch den Titel der Arbeit: Present Continuous beschreibt eigentlich eine englische Grammatikform, die verwendet wird, wenn etwas gerade stattfindet, noch nicht abgeschlossen, unvollendet ist.
 

Skulptur und Architektur schaffen einen gemeinsamen Brückenschlag
zwischen Vergangenheit und Gegenwart


Das Bild von einer sich übergebenden Person werden wir wohl nicht mehr aus unseren Köpfen bekommen. Aber wir sind uns einig, dass sich der zweite Blick durchaus gelohnt hat. Skulptur und Architektur schaffen gemeinsam den Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Gegenwart und erinnern uns – ganz im Sinne von Maurizio Nannucci – daran, dass nicht nur jede Kunst einmal zeitgenössisch, sondern auch jeder Moment einmal Gegenwart gewesen ist.

Autorin: Elisabeth Pilhofer
Elisabeth Pilhofer ist freischaffende Redakeurin und Kuratorin in München. Diesen Sommer macht sie sich auf die Suche nach Orten an denen sich Skulptur und Architektur begegnen.

Über den Autor/ die Autorin

Elisabeth Pilhofer

Elisabeth Pilhofer ist freischaffende Redakteurin und Kulturmanagerin in München.

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