Wegweiser aus dem Labyrinth verfälschter Wirklichkeiten
Die Experience von sculpture network führte uns vom 22. bis 25. August zur 58. Venedig Biennale.
Unter dem Deckmantel eines ambivalenten, verzaubernd poetischen Charmes offenbaren Werke von 79 Künstlerinnen und Künstlern die Unsicherheiten, Ängste und Schrecken der menschlichen Existenz.
Ralph Rugoff, Direktor der Hayward Galerie in London kuratiert die diesjährige Ausgabe der weltweiten Mutter aller Biennalen. Der bedrohlich anmutende Titel May You Live In Interesting Times bezieht sich auf eine Art Fake-Fluch: ein englisches Sprichwort, das seit langer Zeit fälschlicherweise als alter chinesischer Fluch verbreitet wird. Um auf die Krisensituation seiner Zeit aufmerksam zu machen überliefert der Diplomat Sir Austen Chamberlain die asiatische Redewendung in den 30er Jahren. Aktuelle Krisen und Gerüchte rund um Fake-News, Brexit, Künstliche Intelligenz, Trump, Rechtsruck, Klimawandel, verschmutze Meere, und Artensterben beschäftigen die Künstlerinnen und Künstler auf der Biennale.
Unsere Reise beginnt im Skulpturenpark Giardini di Marinaresse des European Cultural Centre. Dort stellt der Künstler Anton Kerscher seine Metallskulptur Hey You (2018/19) vor. Der Metallkörper des monumentalen Werkes wurde mehrfach bearbeitet, weist Löcher auf und wurde trotz der Stärke des Materials sichtbar beschädigt. Eine deformierte Halbkugel, die an unsere Erde erinnert, scheint unter der gewaltigen Last seiner Füße fast zu zerbrechen. Einzig ein großer, glänzender, goldener Zeigefinger ist erhalten und zeigt auf jeden einzelnen Besucher. Er fordert zu Eigenverantwortung gegenüber den gegenwärtigen Problemen unserer Welt auf. Die Skulptur ist Teil des internationalen Ausstellungsprojektes Personal Structures des European Cultural Center, das neben Kerscher rund 200 internationale Künstlerinnen und Künstler aus 40 Ländern in den Giardini Marinaressa, dem Palazzo Bembo und dem Palazzo Mora präsentiert. Nach einer Besichtigung von weiteren Arbeiten von Carole Feuerman, Nadim Karam, Clifton Manghoe und anderen werden bei einem Empfang und venezianischem Sonnenuntergang die Eindrücke des ersten Abends diskutiert.
Am zweiten Tag erkunden wir die Arsenale, einen der beiden Hauptausstellungsorte der Venedig Biennale. Venedigs ehemalige Werft und Rüstungskammer war das weltweit größte vorindustrielle Produktionszentrum. Auf 50.000 Quadratmetern entwickelt Rugoff hier mit Delvendahl Martin Architects eine labyrinthartige Ausstellungsarchitektur aus Funiersperrholz auf der sich insbesondere gegenständliche Malereien, Videos, Fotografien und Skulpturen entdecken lassen. Sowohl in der Arsenale als auch in den Giardini werden dieses Jahr Arbeiten derselben Künstlerinnen und Künstler gezeigt.
Im Eingangsbereich finden sich verstörend anmutige Nachtaufnahmen der gefährdeten Bewohner von Kolkata des Fotografen Soham Gupta. Schreie, Schüsse und Explosionen der Videoinstallation 48 Movies of War von Christian Marclay durchdringen den Ausstellungsraum. Ein schwindelerregender Loop aus den Screens von sich überlappenden Rahmen und Sounds von Kriegsfilmen. Der bannende direkte Blick aus den großformatigen Selbstporträts der Südafrikanerin Zanele Muholi fordert beim Vorbeigehen bestimmt nach Selbstermächtigung. Düster Teresa Margolles Installation The Search zum Verschwinden von Mädchen in der mexikanisch-amerikanischen Grenzstadt Ciudad Juarez. Alexandra Bircken nutzt als Einzige für ihre Installation die Höhe des historischen Gebäudes der Arsenale: Über den Stufen von Leitern hängen leblose in sich zusammengefallene Figuren aus schwarzem Latex, am Boden ein zweigeteiltes Motorrad mit durchschnittenen Kabeln. Dem Motto „Höher, schneller und weiter“ entzieht die Künstlerin die Geschwindigkeit und fordert zum Innehalten auf, um sich selbst beim Untergehen auf dem Weg nach Oben zu zusehen. Danach anhaltende Sogwirkung bei John Rafman’s brutal-bizarrem Gameuniversum Dream Journal mit surrealen Abenteuern des Xanax Girls auf zielloser Suche zum Soundtrack von Oneohthrix Point Never. Unsere Tour endet bei der umstrittenen Installation des Schweizer Künstlers Christoph Büchel. Barca nostra. Das Wrack eines Flüchtlingsboots, das 2015 vor Lampedusa kenterte. Bei dem Unglück starben mehr als 700 Menschen.
Im Anschluss an die Arsenale besuchen wir den Palazzo Bembo vom European Cultural Center. Im 15. Jahrhundert von der Adelsfamilie Bembo erbaut, befindet sich das eindrückliche Gebäude inzwischen als Ort kultureller Begegnungen unweit der bekannten Rialto Brücke direkt am Canale Grande und beherbergt Arbeiten unter anderen von Nina Dotti, Helga Palasser, Tineke Smith, Sarah Gold und Nobuyoshi Araki. Nach dem gemeinsamen Besuch der Hauptausstellungen erstellen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Experience ihr eigenes Programm und empfehlen sich für den weiteren Aufenthalt beim Abendessen die Performance im Pavillon von Lithauen (Goldener Löwe!), den brasilianischen, isländischen oder saudi-arabischen Pavillon. Auch Ghanas erster Pavillon und ein Besuch der Academia oder des Palazzo Grassi stehen hoch im Kurs. Und klar Lido nicht vergessen!
Der dritte Tag führt uns zu dem zweiten Hauptausstellungsort der Biennale. Die Giardini, die grünen Gärten im Osten Venedigs werden seit 1895 von der Biennale bespielt und beherbergen den Zentralen Pavillon sowie die 29 Länderpavillons aus unterschiedlichen Epochen. Eines der eindrücklichsten Werke der diesjährigen Biennale ist dort sicherlich Can’t Help Myself vom Pekinger Künstlerduo Sun Yuan und Peng Yu. Teils harmonisch schwingend, teils stockend bewegt ein Industrieroboter mit seinem automatisierten Hebearm einen Pinsel. Im Sisyphusmodus versucht er vergeblich die sich um ihn verteilende blutrote Farblache aufzuwischen. Im nächsten Augenblick für Außenstehende unberechenbar bedrohlich klatscht er die Flüssigkeit an die gläsernen Scheiben seines Käfigs. Gefangen und zur Schau gestellt wie ein wildes Tier im Zoo verweist dieses Werk auf technologische Ängste und Bedrohungen. Blutige Gewalterfahrungen an den Grenzen zwischen Maschinen und Menschen und vielleicht die Hoffnung das unkontrollierbare Ausmaß dieser Entwicklungen kontrollieren zu können.
Automatisiert ist auch die Bewegung eines Metalltors der Künstlerin Shilpa Gupta, das immer wieder mit voller Wucht gegen eine Ausstellungswand knallt und die Spuren seiner Kraft wie einen Schlagabdruck hinterlässt. Ein Tor, das sich gleichzeitig öffnet und verschließt und an eine Art Grenzmarkierung erinnert, die sich selbst und alles was sich in ihrem Territorium befindet, zerstören kann. Sicherlich ein Highlight: der Oktagon des zentralen Pavillions, im abgedunkelten Raum ein flackerndes Max-Ernst-Hologram von Cyprien Gaillard, umgeben von einer Installation von Danh Vo und fragmentierten Körperabgüssen von Yu Ji.
Beeindruckend auch der französische Pavillon, den die Künstlerin Laure Prouvost in einen poetischen Zwischenraum verwandelt. Von außen steigt Wasserdampf auf, der Eingang wird zum Ausgang, hinein geht es durch das Gebüsch und den Keller. Treppen zwischen Schutt hinaufsteigend, gelangen die Besucher und Besucherinnen in einen Raum mit einem Boden der sowohl an Meeresgrund als auch Sandstrand erinnern kann. Aus Muranoglas gefertigte Abfallobjekte, wie Plastikflaschen oder Lebensmittelreste, liegen zwischen den Körpern von Meerestieren wie Quallen und Oktopoden in einem blaugrün schimmernden mit Gussharz versiegeltem Boden. Eine weiße Taube hüpft herum. Der zweite Raum erinnert an das Bauchinnere eines Oktopusses – ein multisensorisches Wahrnehmungswunder und Lieblingstier der Künstlerin. In der Bilderflut des dort gezeigten Filmes taucht die Taube fliegend wieder auf. Die Protagonisten flüchten darin von Paris nach Venedig und lassen sich vom Dach des Pavillons fallen als könnten sie ebenfalls fliegen – eine Flucht in oder aus einer Traumwelt?
Das kulturelle Programm des Tages setzen wir nachmittags im Palazzo Mora vom European Cultural Center fort. Einer der Räume hütet ein meisterhaftes Fresko aus dem 18. Jahrhundert und wir betrachten Kunstwerke von Adriana Carambia, Raffy Napay und Judith Unger sowie die sehenswerten Biennale Beiträge der Seychellen, Kiribati und Mozambique. Bei unserem Abendessen teilen wir unsere vielen Eindrücke miteinander. Einer geraden Linie verweigert sich diese Biennale in ihrer gewollten vielstimmigen Offenheit vehement. Gleichzeitig kann in Frage gestellt werden inwieweit die Biennale der Grenzenlosigkeit die sie propagiert selbst als Ort der Nationalpavillons widerspricht. Wie lassen sich diese machtpolitischen Strukturen auflösen? Wo lässt sich Staatenlosigkeit verorten? Halil Altındere’s Scheinpavillon Neverland – Niemandsland ist so ein fassadärer Ort für die Ortlosen dieser Welt. Vielleicht lassen sich einige Werke als Wegweiser aus der Sackgasse im Labyrinth der verfälschten Wirklichkeiten verstehen: die Hintereingänge, das Umdenken, Umstülpen und Umdrehen, Rückwarts- statt Vorwärtsgehen, Runter statt hoch, Anhalten und Innehalten, blind suchend ohne Ariadnefaden.
Autorin: Giannina Herion
Giannina Herion ist freischaffend in Kultur und Kommunikation tätig. Im August führte sie die sculpture network Reisegruppe durch die Gassen und über die Kanäle Venedigs zu den Highlights der Biennale.
Titelbild: Ralf Kirberg im Skulpturenpark Giardini di Marinaresse des European Cultural Centre. Photo: Giannina Herion