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Auf den Spuren eines Wunders

Reisebericht sculpture network Experience Baskenland und Kantabrien

Einundzwanzig Jahre ist es her, dass in der baskischen Industriestadt Bilbao eine  Dependance des New Yorker Guggenheim-Museums eröffnete. Es war das erste Museum der Welt, dem es gelang, einer Stadt ein völlig anderes Gesicht zu geben und ihr neue wirtschaftliche Perspektiven zu eröffnen. Die Metropole des Baskenlandes hatte lang vom Schiffbau und von ihrer stahlverarbeitenden Industrie sehr gut gelebt. Die weltweite Überproduktion an Stahl stürzte Bilbao jedoch in den siebziger und achtziger Jahren in die Krise. Fabriken mussten schließen, die Arbeitslosigkeit stieg auf beinah dreißig Prozent. Das Flussufer des Nervión war gesäumt von leeren Fabrikgebäuden. Die Regierung des Baskenlandes verstand, dass Bilbao einen neuen Plan für die Zukunft brauchte. Gleichzeitig hatte die New Yorker Guggenheim-Stiftung gerade angekündigt, ins Ausland zu expandieren. „Das Timing passte perfekt“, sagt die Guggenheim-Kuratorin Petra Joos bei einem Besuch von sculpture network in Bilbao. Anfang der neunziger Jahre bot das Baskenland dem damaligen Guggenheim-Chef Thomas Krens an, die Kosten für ein neues Museum in ihrer Stadt komplett zu übernehmen: Dazu gehörten die Bausumme von hundert Millionen US-Dollar und der jährliche Unterhalt in Höhe von zwölf Millionen Dollar. Den Auftrag bekam der amerikanische Architekt Frank O. Gehry. Am Ufer des Nervión gelang ihm ein spektakuläres, titanglänzendes Bauwerk, das Bilbao schlagartig auf die Weltkarte der Kulturmetropolen setzte. Bilbaos schillerndes Wahrzeichen lockte Touristen, Unternehmen und Kreative an. Mit der Wirtschaft geht es seither bergauf. Selbst die Weltfinanzkrise 2008 traf die Stadt weniger hart als das übrige Spanien. Der Bilbao-Effekt und das Wunder von Bilbao wurden sprichwörtlich und finden bis heute viele Nachahmer: vom spanischen Santander bis nach Abu Dhabi, wo eine ganze Museumsinsel die Stadt auf eine Zukunft ohne Ölreserven vorbereiten soll. Wie sehr das Guggenheim Bilbao fasziniert, zeigt auch der jüngste Roman des Thriller-Autors Dan Brown (Der Da-Vinci-Code, Inferno). In Origin (2017) nimmt die Beschreibung des Museums und seiner Kunstwerke dutzende Seiten in Anspruch.

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Die sculpture network Reisegruppe in Elcegio  

Die dreißigköpfige Gruppe von sculpture network – Künstler und Kunstliebhaber – erlebte auf ihrer Reise nach Bilbao, in die Rioja und nach Santander, wie sehr der Bilbao-Effekt den Norden Spaniens bis heute beflügelt. In den letzten Jahren entstand überall im Norden Avantgarde-Architektur. Und es scheint, als hätte die Region ein besonderes Herz für die Skulptur. Einige der bekanntesten Vertreter der Gegenwartskunst sind in Bilbao und Umgebung mit herausragenden Werken vertreten. 

Auffällig an der neuen Architektur Nordspaniens ist, dass Frank O. Gehry und Santiago Calavatra gleich mehrfach zum Zuge kamen. Beide sind bekannt für besonders künstlerische Entwürfe mit hohem Wiedererkennungswert. Wer am Flughafen Bilbao ankommt, der landet quasi schon im Bauch einer Skulptur: Im Sondica-Flughafenterminal des spanisch-schweizerischen Architekten Santiago Calatrava. Es gleicht einem weißen Vogel. Auf dem Weg in die Stadt weiß man spätestens auf der La-Salve-Brücke nicht, wo man zuerst hinschauen soll. Auf der Brücke ragen die knallroten Bögen Daniel Burens in den Himmel (Arcos Rojos, 2007), rechts erhebt sich wie ein schuppiges, geflügeltes Urzeitwesen das Guggenheim mit seinen schimmernden Titankacheln. An der linken Brückenseite ragt ein Turm hervor, der, da er an einer Seite offen ist, einen Einblick in die Konstruktion des Guggenheims erlaubt. In Fußnähe des Museums verläuft Santiago Calatravas weiße, segelförmige Zubizuri-Brücke über den Fluss Nervión. Dahinter erheben sich die Zwillingstürme der Izozaki-Towers, ein Werk des japanischen Achitekten Arata Izozaki. Jüngstes Beispiel des Architekturbooms in Bilbao ist das neue San-Mames-Stadion des Fußballklubs Atletico Bilbao mit seiner geriffelten Außenhaut – ein Werk des lokalen Baumeisters César Azkarate.

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Louise Bourgeois - Maman (1999)

Zu den Skulpturen, die ums Guggenheim herum aufgestellt sind, gehören Burens erwähnte Arcos Rojos, die zum zehnten Geburtstag des Museums 2007 aufgestellt wurden. Direkt vor dem Museum steht Louise Bourgeois‘ riesige Spinnenskulptur Maman aus Bronze (1999) – eine Hommage an ihre Mutter. Die 1998 entstandene Fog Sculpture #08025 (F.O.G.) der japanischen Künstlerin Fujiko Nakaya versprüht mehrmals am Tag Wasserdampf und hüllt die Esplanade und den künstlich angelegten Wassergraben vor dem Guggenheim in geheimnisvolle Nebelschwaden. Nach Einbruch der Dunkelheit startet Yves Kleins Fire Fountain. Der französische Künstler hatte das Projekt 1959 in einem Vortrag an der Sorbonne vorgestellt, aber nie realisiert. Er sprach von einem öffentlichen Raum, einer Wasserfläche und einer Fontäne, aus der Feuer statt Wasser sprühen sollte. Inspiriert hatten ihn dazu die Brunnen in den Gärten des Königspalastes von La Granja de San Ildefonso bei Madrid. Klein stellte sich vor, „die eleganten Wasserfontänen durch Feuer zu ersetzen ...warum nicht?“ Erst am Guggenheim Bilbao wurde sein Projekt umgesetzt. Auf dem Weg zum Eingang des Museums folgt Anish Kapoors InstallationTall tree and the eye (2009), bestehend aus 73 spiegelnden Kugeln. Eine Treppe führt hinauf zu Jeff KoonsPuppy (1992). Koons gelang es hier, die zwölf Meter hohe Skulptur eines Hundes – eines West Highland Terriers – wie einen Garten mit 17.000 Blumen zu bepflanzen. Das Ganze war eine Referenz an den Barockgarten im hessischen Bad Arolsen, wo das Werk während der documenta IX ausgestellt war. Auf einer Terrasse des Guggenheims stehen Koons‘ Tulips – farbige Tulpen aus hochpoliertem Edelstahl aus seiner Celebration-Serie. Das Werk wurde, wie so viele von Koons, von der deutschen Firma Arnold AG hergestellt. 

Auch im Innern ist das Guggenheim Bilbao eine einzige Hommage an die dreidimensionale Kunst: Die 142 Meter lange und 27 Meter breite Fish Gallery im Erdgeschoss füllt Richard Serras Kolossalwerk The Matter of Time(1994-2005) – acht jeweils vier Meter hohe Stahlskulpturen, die der Besucher betreten soll. Aufbauten wie die Ellipse, die doppelt verdrehte Ellipse oder eine Schlange erlauben alle Arten von Raumerlebnissen – vom Desorientierung bis hin zur Klaustrophobie. Nirgendwo ist Serras Anliegen, die Wirkung von Räumen auf den Menschen zu veranschaulichen, so erlebbar wie im Guggenheim Bilbao. Serra verwendete für seine raffinierten konkaven und konvexen Stahlwände übrigens dieselbe CAD-Software wie Frank Gehry für seine Architektur. Sie hat den Namen Catia (Computer Aided Three-Dimensional Interactive Application) und wurde von der französischen Firma Dassault für die Luftfahrt- und Automobilindustrie entwickelt. Weitere Highlights des Museums sind Jenny Holzers Installation für Bilbao (1997) und die Werke der baskischen Bildhauer Eduardo Chillida und Jorge Oteiza.

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Blick auf das Guggenheim Museum Bilbao

Sehenswert ist auch die aktuelle Ausstellung über die baskische Performance-Künstlerin Esther Ferrer, die Möbel und andere Gegenstände mit dünnen Fäden im Raum befestigt und damit auch schwere Objekte schweben lässt. Die Ausstellung kuratiert Petra Joos vom Guggenheim Bilbao. Im Gespräch mit ihr hatte die Gruppe die Gelegenheit, sich aus erster Hand über den Erfolg des Museums zu informieren. Nicht ohne Stolz erklärte Joos, dass das Museum in Bilbao mit 1,3 Millionen Besuchern im Jahr inzwischen mehr Zulauf hat als das New Yorker Mutterschiff. Insgesamt verzeichnete man seit der Eröffnung weit über zwanzig Millionen Besucher. 

Auf einem Abstecher in die Weinregion La Rioja stellte die Gruppe fest, dass die Weingüter der Region ihr eigenes Wunder von Bilbao erleben. Sie setzten schon vor zwanzig Jahren auf Stararchitektur – ohne zu ahnen, welchen Trumpf fotogene Wahrzeichen-Architektur in der Instagram-Ära darstellt. Santiago Calavatra baute im Auftrag des Pernod-Ricard-Konzerns für das Roja-Weingut Ysios inmitten der Weinberge bei Guardia ein spektakuläres Kellereigebäude. Wie eine Fata Morgana flimmert das langgezogene Gebäude mit seinem wellenförmigen Aluminiumdach und seiner gewellten Fassade aus Zedernholz in der hügeligen Landschaft. Die majestätische Kanzel im Zentrum des Baus hat fast sakrale Wirkung. Sie könnte auch von einem Schiffsbug inspiriert sein, der durch die Wogen des Meeres pflügt.  
Die Wirkung des Calatrava-Baus beeindruckte auch das Nachbarweingut Herederos del Marqués de Riscal. Es beauftragte wenig später keinen Geringeren als Frank O. Gehry mit einem Gebäude von emotionaler Wucht. Es ist jetzt Teil einer Stadt des Weines im Dörfchen Elciego. Das Gebäude entstand zwischen 2003 und 2006 und war von Anfang an als Luxushotel geplant. Es wird heute von der Starwood-Gruppe gemanagt (Sheraton, Le Méridien, The Luxury Collection). Schon von weitem ist es als typischer Gehry-Bau erkennbar. Dafür sorgen die gewellten Titanbänder in den Weinfarben Silber, Gold und Rosa, die sich um die Außenhaut schlängeln. Auch das Interior ist von Gehry. 

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Manolo Valdés - Lillie (2006)

Weniger durch die Architektur, dafür mit der Kunst möchte das Museum Würth in Agoncillo glänzen. Das Unternehmen Würth mit Basis im schwäbischen Künzelsau versteht sich als Weltmarktführer im Handel mit Montage- und Befestigungsmaterialien. In Spanien hat die Gruppe fast 2.400 Beschäftigte. Weithin bekannt ist, dass der Unternehmensgründer Reinhold G. Würth ein passionierter Kunstsammler, Mäzen und Museumsgründer ist. In der Rioja betreibt die Firma daher nicht nur ein Logistikzentrum, sondern auch ein Museum. Die Direktorin ist Silvia Lindner García, eine in Spanien graduierte Kunsthistorikerin mit deutschen Wurzeln. Die sculpture-network-Gruppe hatte die Gelegenheit, die aktuelle Wechselausstellung zu sehen. Sie trägt den Titel Der Ruf des Waldes – Bäume und Wald in Gemälden und Skulpturen der Würth-Sammlung (bis 28. April 2019) und umfasst Werke unter anderem von Anselm Kiefer, David Hockney, Christo and Jeanne-Claude, Richard Deacon und Robert Longo. Eröffnet wird die Ausstellung von der Mammutbüste Lillie, einer Skulptur des spanischen Bildhauers Manolo Valdés. Das Schnitzwerk aus Olivenholz zeigt eine junge Frau mit breitkrempigem Sommerhut und ist stolze 3,45 mal 4,30 Meter groß.

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Zu Besuch im Atelier von José Antonio Olarte

Zu den Highlights der Reise gehörte ein Besuch im Atelier des Bildhauers José Antonio Olarte in Logroño, der Hauptstadt der Rioja. Olarte arbeitet bevorzugt in Stahl. Am Ortseingang von Logroño steht seine 17 Meter hohe Stahlskulptur Naves de paso. Eines seiner bekanntesten Werke trägt den Titel En busca de un sueno (Auf der Suche nach einem Traum). Olarte sammelte dafür auf Stoffbahnen Fußabdrücke von Pilgern auf dem Jakobsweg.Eine Teilnehmerin der Reise erwarb direkt im Atelier ein Werk José Antonio Olartes. Darüber freute sich Ralf Kirberg, Spiritus Rector von sculptur network, besonders. "Wenn aus Interesse Bedürfnis und aus Bedürfnis Besitzwunsch wird, dann ist das ganz im Sinne von sculpture network." Im Gespräch mit Beatriz Carbonell Ferrer, der sculpture network Koordinatorin in Nordspanien, gab Olarte einen Einblick in die Entstehung seiner Kunstwerke. Beatriz Carbonell Ferrer veranstaltet auch in diesem Jahr die auf Skulpturen spezialisierte Kunstmesse Sculto. Sie findet vom 30. Mai bis zum 3. Juni 2018 in Logroño statt (lesen Sie hierzu auch das Interview mit ihr in diesem Newsletter). 

Der Guggenheim-Effekt ist auch im eleganten Badeort Santander zu spüren. Dort wurde im Sommer 2017 direkt an der Uferpromenade das Centro Botín eröffnet. Entworfen hat es der Architekt des Pariser Centre Pompidou, der Italiener Renzo Piano. Das Doppelgebäude, das einem in zwei Teile geschnittenen, über dem Erdboden schwebenden Ufo gleicht, hat das Zeug, das neue Wahrzeichen der Stadt zu werden. Stifter und Namensgeber des Museums ist die Fundación Botín. Hinter der wiederum steht die gleichnamige Bankiersfamilie. Die Dynastie beherrscht seit Generation das bekannteste Unternehmen der Stadt, den Banco Santander. Das Kreditinstitut ist das größte Spaniens und gehört zu den zehn größten Banken der Welt. Der Bedeutung der Bank ist es sicher zu verdanken, dass die Stadtverwaltung ihr ein öffentliches Filet-Grundstück an der Promenade überließ. Aber auch Dankbarkeit dürfte eine Rolle gespielt haben, denn die Botín-Stiftung hat das 80 Millionen-Euro-Projekt komplett aus eigener Tasche bezahlt. Das Centro Botín zeigt vor allem Werke von Stipendiaten der Kunststiftung. Die Privatsammlung der Bankiersfamilie ist hier nicht zu sehen. Aktuell gastiert in Santander jedoch eine Ausstellung über Joan Miró als Bildhauer. Miró ist eher als Maler bekannt. Dabei gestaltete er zwischen seinem 50. und seinem 90. Lebensjahr rund 500 Skulpturen. Seit 1928 schuf er surrealistische Figuren aus vorgefundenen Objekten – von Korkbrocken über Jakobsmuscheln bis zum Eisenring. Sein plastischer Kosmos besteht aus skurrilen Gestalten, die er selbst als Monster bezeichnete. In den 1940er und 1950er Jahren arbeitete er eng mit dem Keramiker Josep Llorens Artigas zusammen. Als Mirò 1956 nach Mallorca zog, wo der Architekt Josep Lluis Sert sein Atelier baute, war es sein Traum, dass seine Skulpturen wie Mitbewohner in seinem Atelier stehen sollten. Ab 1966 gestaltete er größere Plastiken in Bronze, die er später bemalte, wie das bekannte Werk Jeune Fille s’echappant (1968). Seine Figuren sind verspielt und voller Ironie. Oft haben sie eine unverhohlen erotische Bedeutung, die schon den Zeitgenossen auffiel. 

Der Norden Spaniens ist für sein hohes gastronomisches Niveau bekannt, und auch aus kulinarischer Sicht war die Reise für jeden ein Erlebnis. Ebenso nachhaltig bleibt der schimmernde Silberfisch von Bilbao in Erinnerung, den Frank Gehry der Stadt geschenkt hat. So mancher hatte während der Reise das Gefühl, seinen ganz persönlichen Bilbao-Effekt zu erleben. Etwa indem er sich wünschte, dass auch in Deutschland mutiger und avantgardistischer gebaut wird. Dass Architektur phantasievoll und theatralisch sein darf, das weiß man etwa in München, einer Stadt, die immerhin Günter Behnischs Olympiapark, die Allianz-Arena von Herzog & de Meuron und die geschwungenen Firmengebäude von BMW hervorgebracht hat. Doch gerade bei Kulturbauten dominiert allzu oft die Langeweile und die gerade Linie. Etwas mehr gestalterische Phantasie in der Architektur, da waren sich alle einig, könnte auch in unseren Städten noch Wunder vollbringen.

Autor: Holger Christmann

      

 

Holger Christmann ist Münchner 
Kunst-Journalist und begleitete 
die sculpture-network-Gruppe 
zu den Wundern im Norden Spaniens
 

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