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Skulptur heute

Aus der Reihe „Kuratoren zur zeitgenössischen Skulptur in Europa“. Ein Text von Hilary Murray.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versuchten Künstler die überwiegend statische Natur von Kunst zu überwinden, in dem sie anfingen mit kinetischen Techniken zu arbeiten und diese in ihre Werke mit einfließen zu lassen. In seinem „Manifest Jaune” von 1955 postulierte Victor Vasarely, dass Kunstwerke in Serien multiplizierbar und wiederholbar sein sollten. So schreibt er, dass „die sich entfaltenden und temporären Eigenschaften das Potential von unendlicher Replikation suggerieren” (1).

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Barbara Knezevic, Parsing Structure, 2012

In geometrischen Arbeiten, wie sie unter anderem in den 1960er Jahren beispielsweise von Sol Le Witt und Carl Andre geschaffen wurden, tritt das Bewusstsein von Tiefe durch das Baukastenprinzip in den Vordergrund – der Raum, den die Arbeiten einnehmen, wird von diesen gleichzeitig nachgeahmt, um den Unterschied zu negieren. Oftmals wurden diese Werke in Weiß gehalten und nicht koloriert, da die Künstler Farbe als zu ausdrucksstark und einnehmend empfanden. Außerdem war der Gebrauch von Weiß der Versuch das Objekt weiter an den Raum anzupassen und zu dematerialisieren. Die Arbeiten befassten sich mit dem Galerieraum selbst, so dass angenommen wurde, dass die physische Existenz der Werke unabhängig von diesem Raum keinen Bestand hat (vgl. Sol Le Witt´s Dwan Gallery Installation, NY 1966).

Carl Andres Installation „Equivalents I-VIII” ist seriell zu verstehen, obwohl jedes Einzelteil unterschiedlich ist, denn sie sind jeweils Permutationen von ähnlichen Bildern, von denen jedes das Äquivalent des Anderen ist. Das Arrangement der Arbeiten passt Andre an die jeweilige Ausstellungssituation an und infolgedessen wurden verschiedene Ziegelsteine für verschiedene Situationen verwendet. Obschon die Anordnungen systematisch erscheinen, sind sie in sich ungeordnet  eine Methode die Andre „anaxiale Symmetrie” nannte (2). Diese Methode wurde als „unendliche Kunst für Jedermann” bekannt, angesiedelt im Bereich der Konzeptkunst jedoch im materiellen Sinne großzügig, bietet jede Permutation doch durch die Verwendung von bekannten Elementen einen Zugang zum sozialen Umfeld. Viele Arbeiten von Andre, und vor allem Arbeiten, die in der Serie der Modulars entstanden, verweisen auf den Raum in dem sie entstanden sind. Jeder neue Ort gibt Anlass für eine neue Kreation der Anordnung, so dass der Raum die Limitation für neue Kreationen des Werkes vorgibt. In diesem Sinne ist der Raum von größter Wichtigkeit und trägt die Verantwortung für die Erschaffung von Kunstwerken.

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Magnhild Opdol, Atomic Number 79, 2012

Auch wenn Minimal Art und kinetische Kunst relevante Wegbereiter für die heutige modulare Skulptur sind, ist der wichtigste Faktor, dass heute dieses Raster verwendet wird, um die Art und den Fortbestand von Zwischenräume zu erkunden. Denn die Zwischenräume – deren Größe vom Künstler selbst festgelegt werden - evozieren Mobilität und Interaktion, so dass jede Unterbrechung einen Blick auf und in das Kunstwerk freigibt. Nun stellt sich die Frage, welche Aspekte diese Wahl bedingen und ob Regelmäßigkeit notwendig ist, um die Modulhaftigkeit einzubeziehen? Der Unterschied zwischen dem Baukastenprinzip des 20. Jahrhunderts und dem zeitgenössischen definiert sich an Hand der gesellschaftlichen Lebensbedingungen und der Erfahrungen der Künstler selbst. Die zeitgenössischen Arbeiten zeichnen sich oftmals dadurch aus, dass sie in-situ, also in Relation zu dem Ort konfiguriert werden, an dem sie ausgestellt werden. Diese Anpassung an verschiedene Räumlichkeiten konstituiert Bewegung und bietet dem Rezipienten verschiedene Blickwinkel und Formen der Auseinandersetzung und infolgedessen alternierende Interpretationen, was dazu führt, dass das Werk sich die Dynamik menschlich-physischer Erfahrungen aneignet. 

So ist die zeitgenössische Skulptur einerseits maßgeblich von der Auseinandersetzung mit verschiedenen Umgebungen beeinflusst und andererseits von den menschlichen Elementen, die jedem Ort inhärent sind. Viele zeitgenössische Bildhauer greifen die geometrischen Formen des Ausstellungsraumes in ihren Skulpturen auf, so dass die Werke die Raumstruktur wiedergeben und sich innerhalb dieses Rahmen erweitern und wachsen. In diesem Sinne legen die Kunstwerke die Möglichkeiten der Räume im Besonderen und des Raumes im Allgemeinen offen. Obschon von einem System bestimmt, ist dieses nicht allgemeingültig, sondern von beliebiger Natur – jede Einheit ist austauschbar. So schafft der Formenwandel eine interne Dynamik, welche als der Skulptur inhärentes Pendant zur physischen Umpositionierung der Arbeit an einen anderen Ort erscheint. Sowohl die vom Künstler evozierte implizite Bewegung der Skulptur, als auch die, die durch den Ortswechsel hervorgerufen wird, verweisen auf die genetische Natur des Rezipienten. Das Aufgreifen dieser biologischen Eigenart der Anpassung dient dazu, das generalisierte, statische Raster von Umgebung zu hinterfragen, das man im Kunstkontext oft antrifft.

(1)  Vasarely, Victor (1955). Notes pour un manifeste, Le Mouvement, Paris: Galerie Denise Rene ("the unfolding and temporary qualities suggest their potentially infinite replication")
(2)  Meyer, James (2001). Minimalism, Art and polemics in the sixties. Yale University Press
(3)  Adorno, Theodor (1970), Aesthetic Theory, Continuum Books

Originaltext in englischer Sprache, deutsche Übersetzung von sculpture network.

Künstlerauswahl der Kuratorin zur Verdeutlichung der These:

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Lucy Andrews, Detail of commissioned work for The Modelled Conscious, 2012

Barbara Knezevic (Australien, 1977)
Mary Ruth Walsh (Irland)
Molly O’Dwyer (Irland, 1980)
Isabel Nolan (Irland, 1974)
Anne Tallentire (Irland, 1949)
Aleana Egan (Irland, 1979)
Caoimhe Kilfeather (Irland, 1979)
Rhona Byrne (Irland, 1972)
Magnhild Opdol (Norwegen, 1980)
Lucy Andrews (United Kingdom, 1978)

Hilary Murray
Geboren und wohnhaft in Dublin, Irland

Dr. Hilary Murray arbeitet als freiberufliche Kuratorin in Dublin. Nachdem sie ihre Dissertation im Bereich der Neurowissenschaften erfolgreich an der UCD ablegte, studierte sie zeitgenössische Kunst an der NCAD und schloss mit dem Master ab. Anschließend arbeitete sie für einige Jahre im Irish Museum of Modern Art bis sie schließlich die Stelle als Curator in Residence in der RUA RED Gallery in Dublin antrat. Dort leitete sie eine Reihe von Ausstellungen und Gesprächen, mit Fokus auf die Wahrnehmung und das Bewusstsein. Außerdem setzte sie sich für den Erwerb von neuen Arbeiten und die Unterstützung von Nachwuchskünstlern ein. 2013 kam sie in die engere Auswahl für die Auszeichnung für aufstrebende irische Kuratoren.


Falls Sie Hilary Murray kontaktieren möchten, schreiben Sie bitte an info@sculpture-network.org

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